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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Dieses eine Wort „fremd“ hatte mit einem Schlage alle frühere Zusammengehörigkeit verleugnet und war die Bestätigung, daß sie ihm nie, nie mehr gewesen war als – eine flüchtige Spielerei! – –

Und über der Welt, die so viel herbes Leid in sich barg, so viel Enttäuschung, wehte an diesem Abend der Duft des blauen Flieders geradezu berauschend, und auf die Berge und Wälder, auf Schloß und Städtchen goß der Mond seine Silberstrahlen und ließ die blühenden Apfelbäume in leuchtendem Weiß erscheinen. Aus dem Garten der Oberförsterei klang Zitherspiel und der Gesang einer Frauenstimme, das mochte die junge Frau Oberförsterin sein. Sie waren glückliche Menschen, die beiden, die dort wohnten, und in einer Stimmung, wie sie für solchen Abend paßte.

Aenne stand still und lauschte ein Weilchen, dann kehrten ihre Gedanken mit zwingender Gewalt immer wieder zu Heinz zurück. Was mochte nur droben auf dem Schlosse geschehen sein? Der Bote hatte des Doktors Erscheinen so dringend gefordert. Ob der Kleine kränker geworden?

Sie lachte plötzlich kurz auf – was ging das „fremde“ Kind sie an!

Sie wanderte wieder auf und ab in dem Mittelweg, der vom Hause an durch die Länge des Gartens bis zur Jasminlaube führte. Eben näherte sie sich wieder dem Hause, da stürmte der Doktor zur Vorderthür herein.

„Fräulein Aenne,“ scholl seine Stimme im Flur, „Fräulein Aenne!“

Sie blieb erschrocken stehen; was wollte er von ihr heute?

Nun trat er bereits in die Gartenthür. „Ach, da sind Sie ja! Können Sie es über sich gewinnen, solch zudringlichem Burschen wie mir einen Gefallen zu thun? Wie ich Sie kenne, sind Sie nicht kleinlich, also – vergessen Sie ’mal, was heute geschehen, ein paar Stunden lang, helfen Sie mir als barmherzige Schwester! Da droben, der Heini, das elende Tierchen, muß operiert werden, Halsabsceß mit Erstickungsgefahr, höchste Eisenbahn – verstehen Sie! Kerkow steht vor der Thatsache wie ein Gelähmter, ist zu nichts zu gebrauchen, und Schwester Viktoria ist soeben fort von Breitenfels, nach dem Hüttenwerck da oben – – Binden Sie ein Tuch um und kommen Sie, unterwegs werde ich Ihnen sagen, was Sie zu thun haben, zimperlich sind Sie ja nicht, und es handelt sich um Leben und Tod! Eilen Sie, ich bin gleich wieder hier mit meinen Instrumenten, nehmen Sie auch eine Schürze mit – –“

Aennes Kopf bog sich in den Nacken zurück. Was geht mich das „fremde“ Kind an? wollte sie rufen, aber es würgte sie etwas in der Kehle, etwas, das mächtiger war als der Schmerz ihres verletzten Herzens, als ihr gedrückter Stolz.

„Sie wollen wohl nicht?“ rief er zurückkehrend mit dem Saffiankästchen unter dem Arm. „Das dürfen Sie mir nicht anthun, ich fordere diesen ersten Freundschaftsbeweis von Ihnen im Namen der Menschlichkeit!“

Aber sie schritt schon neben ihm durch den Flur.

„Wissen Sie,“ sprach der Doktor weiter im Gehen, „dem Wurm wäre geholfen, thäte er die Augen zu, aber der Kerkow, weiß Gott, der Mensch thut dann irgend etwas, das nachher nicht wieder gutgemacht werden kann!“

Sie schritten in möglichster Eile den Schloßberg hinan, nachdem Aenne noch dem Mädchen eine Bestellung an ihre Mutter zugerufen hatte. Und die Mutter saß am Fenster und sah die zwei Menschen, von denen sie glaubte, daß sie nie wieder ein Wort zusammen reden würden, einträchtig nebeneinander über den Platz gehen und im Dämmer der Mondnacht verschwinden.

Was sollte das nun wieder heißen?

Droben im Schloß stand Heinz von Kerkow und starrte auf das Bettchen seines Lieblings, der sich in schweren Qualen wand. So rasch hatte die tückische Krankheit sich entwickelt, daß nur noch eine Operation Rettung bringen konnte. Sein Einziger, sein Letztes, sein Liebstes war dem Tode geweiht – –.

Ihm war so dumpf zu Mut, daß er die Größe dieses neuen Unglücks noch gar nicht voll ermaß. Er hatte die Anordnung des Arztes kaum recht verstanden – warmes Wasser, einen Tisch, frische Leinentücher, hellbrennende Lampen – –. Das Dienstmädchen, die knochige Person, die soeben noch auf dem Korridor von dem jungen Arzt zu der Würde eines dreifachen Kamels erhoben worden war, weil sie gar so ungeschickt das wimmernde Kind emporgehoben hatte, schleppte mit zitternden Händen im Nebenzimmer alles zusammen, was Doktor Lehmann gefordert hatte, und Heinz starrte auf diese Vorbereitungen, als gälten sie einem fremden, nicht seinem Kind, seinem einzigen.

Und dann ging die Thür plötzlich auf und hinter dem Arzt kam eine schlanke, dunkle Gestalt über die Schwelle, und ein Paar Augen, ein Paar lieber trauriger Mädchenaugen suchten das Bettchen des Kindes. Heinz trat betroffen einige Schritte zurück und faßte nach dem Tische, und da kam sie schon herüber zu ihm und sagte mit einer Stimme, der man anhörte, wie schwer das Sprechen ihr wurde. „Erlauben Sie, bitte, Herr von Kerkow, daß ich, in Ermangelung anderer weiblicher Hilfe, dem Herrn Doktor ein paar Handreichungen thun darf – ich will gewiß ebenso sorgsam sein, als wäre es mir“ – – „kein fremdes Kind“ hatte das trotzige Herz ihr zugeflüstert, aber ihre Lippen stockten angesichts dieses zusammengebrochenen Menschen, der vor ihr stand, und wie vor Frost schlugen ihr die Zähne zusammen.

„Ich danke Ihnen,“ stammelte er, „ich danke Ihnen.“

„Wollen Sie die Freundlichkeit haben, uns zu verlassen, Herr Schloßhauptmann,“ befahl jetzt Doktor Lehmann, „ich werde Sie benachrichtigen, sobald Sie wiederkommen dürfen. Ich liebe nicht,“ betonte er, als Heinz zögerte, „wenn Angehörige bei einer Operation zugegen sind – hier ist nur fremde Hilfe am Platz.“

Und dann führte er kurzer Hand den Schloßhauptmann hinaus, und Heinz saß am Fenster des Zimmers, das einst seine Schwester bewohnt hatte, die Hände über dem Knie gefaltet, unbeweglich. Würde es sterben, das Kind, der kleine liebe Gefährte seiner einsamen Tage? „Ein letzter Versuch“, hatte der Arzt gesagt – furchtbares Wort! Und war es auch ein armes Krüppelchen für ihn bedeutete das Kind alles – alles! Denn nachher, dann – – er wollte nicht weiter denken.

Und die Minuten schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen, bis man ihn rief, und als dies endlich geschah, als der Arzt ihn holte, da trat er auf den Zehen in das nur dämmernd erhellte Krankenzimmer; am Bettchen des Kindes, das eingeschlummert schien, saß Aenne May, und den Finger an die Lippe legend, forderte sie ihn stumm zum Schweigen auf.

„Sie bleibt hier die Nacht,“ erklärte der Arzt, „und morgen auch, bis eine Schwester aus Brendenburg kommt. Ich gehe nur hinunter und ziehe mich um, dann komme ich zurück. Sie haben wohl ein Zimmer und ein Bett für mich, ich möchte für alle Fälle zur Hand sein während der nächsten Stunden. Sie, Herr von Kerkow, können sich legen, wenn Sie wollen, oder, falls Sie in der Nähe bleiben wollen – im Nebenzimmer ist wohl ein Stuhl, ein Sofa – nur äußerste Ruhe, bitte, äußerste Ruhe!“

Heinz ging gehorsam in die angrenzende Stube und warf sich in einen Sessel, von dem aus er das Bettchen des Kindes beobachten konnte. Es war totenstill in den hohen Räumen, das Flämmchen des Nachtlichtes warf seinen zuckenden Schein über die schlanke Gestalt, die in dem Fauteuil zu Füßen des Bettes wachte, den Kopf zurückgebogen gegen die Lehne, das schöne Gesicht nach oben gerichtet, unbeweglich, mit großen offenen Augen. Dann und wann richteten sich diese dunklen Augen mit einem unendlich weichen Ausdruck von Besorgnis auf das schlummernde Kind, aber immer wieder starrte sie empor zur Decke in schmerzlichem Sinnen.

Das war Aenne May, die neben dem Bette seines Kindes wachte! Ist das ein Traum? Hat sie wirklich sich seines Kindes erbarmt?

In der lautlosen Stille, die in den Zimmern herrschte, nur unterbrochen durch den Glockenschlag der Schloßkirche, sah Heinz einen Augenblick die Gestalt des Arztes, der zurückgekehrt war und sich flüsternd zu Aenne hinabbeugte, dann fiel ihm ein, wie der junge Doktor am Morgen mit begeisterten Worten den Charakter Aennes geschildert hatte, und er empfand plötzlich ein lebhaftes Unbehagen das seinen Höhepunkt erreichte, als er sich der Andeutungen erinnerte, welche die Frau Försterin ihm heute früh machte, nachdem der Arzt ihn verlassen, droben, auf dem Luisenschlößchen. „Die Leute sagen ja, er wird Fräulein May heiraten“. – Er lächelte bitter. Sie war das erste Glück, das ihm unter den Fingern zerrann, und dann weiter, ein Schlag nach dem andern, und jetzt der letzte – sein Kind wird sterben! So saß er in dumpfer Verzweiflung – wie lange? Er wußte es nicht.

Die Mädchengestalt hatte sich noch immer nicht gerührt,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_310.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)