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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Knabe mit schwarzem Kraushaar und schalkhaften Blitzaugen. Hildegard hatte sich in den Familien der armen Kleinbürger und Handwerker, denen sie oft genug Gaben der Mildthätigkeit und Barmherzigkeit austeilte, just diese drei Lieblinge gewählt, um sie aus ganz besonderer Gunst und Freundschaft im Rechnen, Lesen und Schreiben zu unterrichten. Das machte ihr großen Spaß, und die Kleinen quälten sich gern und eifrig, da Fräulein Hildegard niemals in Zorn geriet, wohl aber stets nach Schluß der Lektion eine Geschichte dreingab, wundersam und erbaulich zu hören.

Auch jetzt war sie dabei, den Kindern eine „prachtvolle Mär“ zu erzählen und zwar die ewig junge Geschichte von dem verzauberten Dornröschen. Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, hatte den Schemel ganz dicht zu dem Fräulein herangerückt und schmiegte sich selbstvergessen und zutraulich an ihr Knie, während Rottmüllers Dorothea, die Hände im Schoß gefaltet, keinen Blick von dem lieblichen Mund verwandte, der so reizvoll und lebenswahr schilderte. Florian, der Sohn des Waldhüters, war vollends im neunten Himmel. Sein hübsches, offenes Gesicht glühte. Er hielt den Rand seiner Schreibtafel krampfhaft umklammert und lauschte wie ein Verzückter.

Als Hildegard schwieg, that er einen beklommenen Atemzug, legte die Tafel weg und sagte mit seltsam bewegter Stimme:

„So Schönes hast du noch nie erzählt. Das ist hundert mal herrlicher als die Geschichte vom wilden Schwan oder vom Däumling.

Dann fuhr er mit ernsthaft wichtiger Miene fort:

„Weißt du auch, was ich jetzt denke? Das Dornröschen muß genau so ausgesehen haben wie du! Die nämlichen langen Zöpfe, das gleiche liebe Gesicht, und so leuchtende Augen!“

„Ach? Leuchten die wirklich?“ scherzte das Fräulein und strich dem begeisterten Buben über den Lockenkopf.

„Wundervoll!“ beteuerte Florian.

„Nun, das macht wohl die Freude. Ich freue mich nämlich über die Maßen, wenn ihr so aufmerksam zuhört und so verständig lernt. Fahrt nur so fort! Dann erzähl’ ich euch nächstens was ganz Absonderliches, die Geschichte von der Entdeckung Amerikas.

„Die kenn ich!“ versetzte Lore, die Tochter des Schuhflickers. „Aber das macht nichts! Wenn du was erzählst, dann klingt das viel schöner als von dem alten Großohm. Der hustet immer und weiß manchmal auch nicht weiter.

Rottmüllers Dorothea und der lebhafte Florian bestürmten jetzt Hildegard mit allerlei Fragen: Wie war das mit den zwölf weisen Frauen? Wohnten die auch in der Stadt, wo der König mit seiner Gemahlin wohnte? Oder lebten sie über den Wolken, wie manchmal die wunderthätigen Feen in andern Geschichten? Gab es denn überhaupt Feen? Der alte Großohm der Schuhflickers-Lore hatte gesagt, das wär’ heidnischer Unsinn und man erzählte das nur zum Spaß, aber Frau Rottmüller, die Mutter der kleinen Dorothea, meinte, dergleichen wäre doch ganz wohl möglich, so gut wie es Hexen und böse Zauberer gäbe … Und das mit dem hundertjährigen Schlaf? Könnte so was in Wirklichkeit vorkommen? Und die dreizehnte Fee? Das war wohl eine richtige Unholdin, die einen Pakt mit dem Teufel hatte?

Hildegard mühte sich, der eifrigen Wißbegier der kleinen Gesellschaft thunlichst gerecht zu werden. Das war nicht ganz leicht. Jede Antwort erzeugte hier eine Gegenfrage, die mitunter auf ein ganz anderes Gebiet übersprang. Hildegard aber verstand es, die wirr durcheinander fliegenden Einfälle immer wieder zu ordnen.

Sie hatte bis jetzt mit kurzen Unterbrechungen weitergesponnen. Nun aber schob sie das Spinnrad beiseite. Die Spindel war voll, und das immer lebhafter werdende Frage- und Antwortspiel mit den Kindern nahm sie ausschließlich in Anspruch. Die Schuhflickerstochter aus der Weylgasse kletterte ihr auf den Schoß und legte ihr zärtlich den rechten Arm um den Hals, was Florian, der Sohn des Waldhüters, von seinem Holzschemel aus nicht ganz ohne Neid beobachtete. Rottmüllers Dorothea hatte sich gleichfalls erhoben und schwatzte nun von den dreien am lautesten.

Mitten in dieses bewegliche Hin und Her trat urplötzlich die kurze, beleibte Gestalt der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Sie trug eine schneeweiße Flügelhaube, die nur einen schmalen Streifen des dünnen Haupthaars freiließ, ein schwarzbraunes, nicht sehr kleidsames Gewand und am Gürtel einen schwerklirrenden Schlüsselring.

„Verzeiht!“ sprach sie zu Hildegard. „Viermal hab ich gepocht. Aber die Kinder da machen so einen Sündenlärm! Schlimmer als im Zigeunerlager!“

Die sonst so gutmütige Gertrud Hegreiner warf dem schwatzhaften jungen Volk, das sich so keck und vertraulich zu dem Fräulein herandrängte, einen recht feindseligen Blick zu. Sie konnte die drei nicht leiden. Denn erstens liebte sie selber die Tochter ihres würdigen Brotherrn abgöttisch und witterte mit leichtverletzlicher Eifersucht überall Nebenbuhler. Zweitens war sie der kleinlichen Ansicht, die vornehme Hildegard mit ihrem adligen Auftreten und ihrer glänzenden Bildung vergebe sich was, wenn sie den Kindern so untergeordneter Leute Unterricht im Schreiben und Lesen erteile. Und drittens schien ihr wenigstens Florian, der blitzäugige Bube des Waldhüters, dringend verdächtig, ein Schalk und ein nichtsnutziger Spötter zu sein, der vor dem Anblick der schneeigen Flügelhaube und dem Geklirre des Schlüsselbundes nicht den wünschenswerten Respekt fühlte. Ihr Mißtrauen hatte sich namhaft gesteigert, seit sie letzthin beim Schlafengehen auf der Matratze ihres jungfräulichen Lagers steinharte Erbsen entdeckt hatte, die nur Florian dort heimtückischerweise versteckt haben konnte. Gertrud Hegreiner begriff nicht, daß Hildegard Leuthold gerade an diesem gottlosen Bengel ein so großes Gefallen fand. Er lernte ja leicht, das stand so weit richtig, und behielt sogar die schwerem lateinischen Wörter, die ihn Hildegard neuerdings probeweise gelehrt hatte, aber das wog doch nicht den Mangel an Erziehung und die arge Respektlosigkeit auf, die schon am Ausdruck seines ewig lachenden und manchmal recht perfid blinzelnden Angesichts lag. Bei diesem garstigen Buben konnte sich Gertrud auf noch weit Schlimmeres gefaßt machen, als auf steinharte Erbsen.

Die ehrsame Wirtschafterin hatte also in etwas gereiztem Tone den Sündenlärm der drei Kinder mit dem wüsten Getreibe eines Zigeunerlagers verglichen. Hildegard aber nahm sich sofort ihrer Schützlinge an.

„I, was wollt Ihr?“ sagte sie lächelnd. „Daran müßt Ihr Euch halt gewöhnen! Die kleinen Schelme sind hier ja nicht im Kloster! Mich für mein Teil freut’s, wenn sie alles recht lebhaft und frisch auffassen. Und Ihr selbst seid ja doch sonst keine Kopfhängerin!“

„Wohl! Aber alles mit Maß und Ziel! Ich denke so manchmal, ob’s den Herrn Vater nicht stört, wenn er da drüben bei seinen Folianten sitzt?“

„Ach, die Kinderstimmen! Die dringen doch nicht bis hinüber ins Arbeitszimmer! Geht, liebe Gertrud! Ihr habt wohl vergessen, wie laut wir beide zusammen gesungen haben, als ich noch klein war. ‚Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall’ und ‚Brause, du Sturm!’ und zwanzigerlei an einem Vormittag!“

„Ja, damals …“

„Streiten wir nicht! Sagt, was es giebt! Denn Ihr wolltet doch was?“

„Freilich. Die Fronbäuerin ist da, die von Lynndorf. Ihr hättet sie herbestellt. Zwar auf gestern. Aber da konnte sie nicht, wegen der Heuernte.“

„Gut. Laßt sie nur eintreten! Ihr Kinder, lebt denn für heute wohl! Das nächste Mal, wenn ihr hübsch fleißig gewesen seid, erzähl’ ich euch wieder Was!“

Sie schob das Spinnrad mit dem rosenfarbig umbänderten Wocken beiseite, zog jedes der Kinder zu sich heran und küßte es auf die Wange. Als sie den Knaben umschlang, barg er sein aufglühendes Antlitz an ihrer Schulter und raunte voll Zärtlichkeit:

„Ach, du herzige Hildegard! Ich hab’ dich so lieb, ich möchte dich gleich zehntausendmal auf den Mund küssen!“

„Das wär’ wohl ein bißchen viel!“ sagte sie freundlich und küßte ihn noch einmal.

Die Kinder, die schon zu Anfang der Unterrichtsstunde gevespert hatten, bekamen noch jedes eine große Glaustädter Rundsemmel mit auf den Weg und wünschten nun auch der alten Wirtschafterin einen glücklichen Abend, wobei Florian eine recht sonderbare Verbeugung machte. Dann schlichen sie leise die Treppe hinunter. Hildegard hatte ihnen das oft genug eingeschärft.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_326.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)