Seite:Die Gartenlaube (1897) 328.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Weiblein gegenüber Anschauungen zu offenbaren, die möglicherweise auf dem geradesten Wege vors Tribunal führen konnten. Sie erinnerte sich der Mahnsprüche ihres Vaters, der oft genug am Schluß einer bewegten Erörterung gesagt hattet „Wahre dich, Hildegard, und hüte dir allzeit die Zunge! Noch ist der Tag nicht gekommen, da unsereins frei reden darf, wie’s ihm zu Mute ist! Aber die Morgenröte wird aufdämmern trotz aller Finsternis. Bis dahin heißt es dulden und harren!

„Lieselott,“ sagte sie endlich, „Ihr müßt nicht gleich so das Schlimmste denken! Vielleicht stellt sich trotz allem heraus, daß der Kleinweiler in der Hauptsache unschuldig ist. Die Redensart, die er gebraucht hat, widerspricht wohl dem zweiten Gebot, aber, du lieber Himmel, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms … Deshalb muß er noch lange kein Zauberer und Verleugner des Herrn sein. Die Ungeduld und der Zorn reißen den besten Menschen oft hin …“

„Aber das mit dem Windstoß! Das mit dem Windstoß! Ich sag’ Euch, mein herzliebes Fräulein, wie auf Kommando!“

„Ja, das ist wohl befremdlich und mag Euch von Grund auf verblüfft haben. Indessen – wenn sonst nichts wider ihn vorliegt … Der Zufall spielt ja im Leben oft wunderbar. Vielleicht war es auch eine Fügung des Himmels, der Euch und dem Kleinweiler zeigen wollte, solch übles Gefluche sei ihm allwege ein Greuel. Hört nur jetzt beileibe nicht gar zu viel auf das, was die Leute reden! Wenn einer im Unglück ist, nachher giebt’s immer Kluge und Ueberkluge die alles voraus gewußt haben.“

„Das kann ja wohl sein,“ versetzte die Fronbäuerin nachdenklich.

„Und wenn Ihr befragt werdet,“ fügte das Fräulein hinzu, „dann dürft Ihr erst recht nichts aussagen, was Ihr nicht ganz bestimmt wißt. Haltet nur streng an der einfachen Wahrheit fest und vertraut auf Gott. Wer weiß, wie bald sie den Mann wieder herausgeben? Kopf hoch, Lieselott!“

Hildegard, von dem Bedürfnis gedrängt, der Fronbäuerin etwas Mut einzusprechen, redete eigentlich neben dem Herzen her. Sie glaubte selbst nicht daran, daß der Prozeß vor dem Glaustädter Malefikantengericht die Schuldlosigkeit des verhafteten Bauern ergeben würde. Seit Balthasar Noß hier den Vorsitz führte, war eine Freisprechung oder gar eine Entlassung beim ersten Verhör noch nicht vorgekommen. Die gräßliche Praxis der Folter, die nirgends so zur Vollendung gediehen war wie bei den Hexenprozessen, sorgte dafür, daß die Gepeinigten alles, auch das Absurdeste, eingestanden, was die Blutrichter den unglücklichen Opfern aufhalsten. Und wenn wirklich einmal eine heldenhafte Natur von übermenschlicher Seelenstärke der unsäglichen Qual widerstand, so war es der Teufel, der dem Gemarterten diese Kraft verlieh, und gerade die Standhaftigkeit galt nun als Schuldbeweis. Verurteilt wurde auf jeden Fall, der Bußfertige wie der Unbußfertige, nur mit dem Unterschiede, daß Balthasar Noß die Bußfertigen erst mit dem Schwerte richten und dann verbrennen, die Unbußfertigen aber lebendig dem Holzstoße überantworten oder, wie der fachmännische Ausdruck lautete, einäschern ließ.

Lieselott spürte bei dem freundlichen Zuspruch Hildegards wirklich eine Art von Erleichterung. Man konnte nicht wissen … Gestern freilich hätte sie drauf geschworen … Und das war zu merkwürdig mit dem plötzlich daherbrausenden Windstoß. Indessen, was ein so vornehmes, kluges, gelehrtes Fräulein sagte, das schwebte doch wohl auch nicht so ganz in der Luft. Lieselott wollte jedenfalls abwarten, eh’ sie sich vollständig ihrem Gram überließ. Dazu war immer noch Zeit, und jetzt hatte sie vorläufig auch an sich selber zu denken, an die Schulden, die sie bezahlen, an die Kinder, die sie neu kleiden wollte. Für beides hatte das Fräulein so grundgütig gesorgt. Ach ja, das war ein leibhaftiger Engel, dem man sein Leid nur zu klagen brauchte, dann schaffte sie Abhilfe. Und so einfach war sie dabei, so natürlich und freundschaftlich, als wären die armen Fronbauern von Lynndorf recht ihresgleichen!

„Gott segne Euch!“ sagte das Weiblein und nahm ihren Pack unter den Arm. „Auch für die schönen tröstlichen Worte von wegen des Kleinweiler. Und nun will ich Euch weiter nicht aufhalten.“

„Gehabt Euch wohl! Und geht zur Theres’ in die Küche, die weiß schon Bescheid! Auf glückliches Wiedersehen!“

Während die Bäuerin nach dem Erdgeschoß trippelte, um sich vom Küchenmädchen den zugesagten Imbiß reichen zu lassen, stand Hildegard einen Augenblick nachdenklich am Fenster. Vom Turm der alten Marienkirche bliesen die Stadtpfeifer und Zinkenisten jetzt eben in langgezogenen Tönen feierlich den Sechsuhrchoral, die schöne Weise des Lutherschen Kernliedes: „Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Das Unheil, das dem fleißigen, braven Kleinweiler widerfahren war, und die gemeinsame Not aller Bürger von Glaustädt, wie sie in diesem einzelnen schier unglaublichen Falle so vorbildlich zum Ausdruck gelangte, hatte das weiche Gemüt des jungen Mädchens schwermütig gestimmt. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an den Jammer einer bedrohlichen Schreckensherrschaft. Das Alltägliche stumpft uns ab. Auch Hildegard Leuthold hing nicht lange den Kopf. Sie war neunzehn Jahre alt und blühend und lebenslustig. Als die Klänge des schönen Chorals verstummt waren, holte sie tief Atem und zuckte die Achseln. Wie Gott will! dachte sie mit der frohen Leichtblütigkeit der Jugend. Und wieder entsann sie sich der Trostesworte ihres geliebten Vaters: „Die Morgenröte wird aufdämmern, trotz aller Finsternis“. Sollte sie sich bis dahin ihr junges Leben vergällen lassen durch Dinge, die sie mit aller Kraft ihres Willens nicht bessern konnte?

2.

Als die Fronbäuerin, die sich vom Hausmädchen ihr Stücklein Braten hatte einwickeln lassen, rüstig über die Grossachbrücke dahinschritt, um jenseit des Flusses ihr heimatliches Dorf zu erreichen, nahm Hildegard aus der bläuliche Thonvase am Fensterbrett einige Maiblumen, steckte sie vor den Busen und ging dann hinüber nach dem Studiergemach, wo der weiland kursächsische Hochschullehrer Magister und Doktor Franz Engelbert Leuthold vor seinem wuchtigen Schreibtisch saß und, über ein stattliches Druckwerk in Großquart gebeugt, mit der sonst knirschenden Gänsefeder allerlei wissenschaftliche Auszüge und Notizen schrieb. Es war eine holländische Prachtausgabe des Marcus Valerius Martialis, die von kurzem in Leyden erschienen war und wegen verschiedener textlicher Ungenauigkeiten das kritische Mißvergnügen des Herrn Magisters herausforderte. Er selbst plante für nächstes Jahr eine gereinigte Neuausgabe des geistvollen Epigrammendichters und wollte in seiner lateinischen Vorrede dem wohlmeinenden Leser scharf auseinandersetzen, wie handgreiflich die so prunkvoll auftretende Leydner Ausgabe geirrt und somit eigentlich den Zweck einer derartigen Publikation miserabiliter verfehlt habe.

Hildegard klinkte vorsichtig auf, spähte hinein und wartete ein paar Augenblicke, ob der vertiefte Schreiber da in dem gerundeten Lehnstuhl sich nicht etwa umschauen würde. Da er sich aber nicht rührte, trat sie behutsam näher und fragte mit ihrer helltönigen Schmeichelstimme: „Macht Ihr nicht bald ein Ende, Vater? Der Abend ist herrlich.“

Franz Engelbert Leuthold wandte den Kopf.

„Nein, Kind,“ versetzte er freundlich. „Diesmal mußt du dich schon mit der Gertrud Hegreinerin begnügen.“

Hildegard umschlang ihren Vater zärtlich und strich ihm das halb schon ergraute Haar aus der Stirn.

„Wirklich? Hat es denn gar solche Eile mit Eurem garstigen Epigrammendichter, den ein sittsames junges Mädchen nicht einmal lesen darf? Geht! Reißt Euch für heute doch los!“

„Unmöglich, mein Liebling! Ich bin jetzt gerade so mitten drin – und überdies einem Problem auf der Spur – ich sage dir, äußerst merkwürdig! Wenn ich da erst mal den Faden verliere … Was man nicht gleich beim Schopf nimmt, das entschwindet uns oft für immer. Geh’ in den Garten, Liebling! Oder auch meinetwegen ein Stückchen nach Grossheim zu. Die Landstraße ist ja noch leidlich belebt.“

„Wie schade!“ rief sie, die Lippen ein wenig aufwerfend. „Ich geh’ nun so über die Maßen gerne mit Euch! Die Gertrud langweilt mich bei all’ ihrer Güte, und das Alleinlaufen … Aber Ihr sollt’s noch einsehn, Vater, Ihr thut Euch zu viel!“

„Ich fürchte das nicht. Diese Ausgabe des Martialis macht mir die größte Freude. Und was der Mensch so mit voller Lust thut, das geht wie von selbst. So, nun laß mich allein! Heut abend plaudern wir noch ein Stündchen. Ich erzähl’ dir dann

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_328.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2016)