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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Frau Rat ein so eminentes Interesse an meiner Ausfahrt, daß sie mir faktisch die Zeit nicht gönnte, an Sie, Fräulein Aenne, zu schreiben. Und nun zu des Pudels Kern! Ihre Frau Mutter befindet sich gut, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines Tages urplötzlich in leibhaftiger Person in dem Stübchen meiner lieben Freundin erschiene, um – – Ja, nun werden Sie ungläubig lächeln. Aber sehen Sie, Fräulein Aenne, Ihre verehrte Frau Mutter glaubt mir ganz einfach nicht, daß ich nach Berlin reise. Sie denkt – das geht aus ihrem ganzen Benehmen hervor – sie denkt: Gelt, der Doktor reist nach Dresden und holt sich die Braut, als welche Sie gemeint sind. Diese fixe Idee ist chronisch bei ihr, und nichts dagegen zu thun. Ich vermute, sie ist mit allerhand Schlichen hinter unsern harmlosen Briefwechsel gekommen, und ihre Kombinationen gelten ihr als Thatsachen.

Ja, Fräulein Aenne, es ist zum Lachen, wenn ich aber mitlachen soll, so kann ich’s nicht hindern, daß ich dabei eine Grimasse schneide, wie die Kinder es thun, die das Weinen unterdrücken wollen. Jedenfalls wissen wir beide, daß Mutter May sich irrt, ich darf wohl sagen – leider irrt, aber eines anderen zu überzeugen war sie partout nicht. Sie ließ sich ganz genau von mir beschreiben, wie man es macht, um nach Dresden zu gelangen, und ich wette, die eilige Citation der Schneiderin hing mit diesem ihrem Phantasiegespinst aufs engste zusammen. Also halten Sie sich bereit, einen abermaligen Sturm der Enttäuschung à conto meiner Reise über sich hinbrausen zu lassen.

Ich bin unschuldig diesmal; ich bin nach Berlin gereist, um in der Charité eine neue, höchst interessante Heilmethode der Diphtherie kennenzulernen und zugleich mir das neue Krankenheim eines Kollegen in Charlottenburg anzusehen, nach dessen Muster ich das meinige in Breitenfels bauen will. Ja, Fräulein Aenne, ich habe die Idee der Anlage einer Kinderheilanstalt aufgegeben, um mich der Nervenheilkunde zuzuwenden, und eine Klinik für Nervenkranke soll es werden.

Steht dieses Haus, dann führe ich auch die Braut heim. Ihnen will ich es anvertrauen – sie ist ein vernünftiges, gutes, kleines Mädchen, ist Ihre Cousine, und was dann ja doch die Hauptsache, sie will mich, so verwunderlich es auch bleibt! Wir beabsichtigen keine lange Verlobung, schon deshalb, um nicht Ihre Frau Mutter zu irritieren und um das Gerede der Leute zu vermeiden, die sich die geehrten Mäuler zerreden würden über das Brautpaar unter einem Dach. Zu Ostern mag dann die Bombe platzen, das heißt, mögen die Verlobungsanzeigen in die Welt gehen, dann am nächsten Sonntag die Verkündigung von der Kanzel, drei Wochen später die Hochzeit! Aber seien Sie nicht böse, Sie lade ich nicht ein, Aenne!

Nun aber habe ich ordentlich gebeichtet, liebe Freundin. Leben Sie wohl! Mein Weg fuhrt mich zwar an Dresdens Nähe vorbei, aber – ich habe wenig Zeit übrig, und dann, nun den anderen Grund kennen Sie – das Herz thut mir immer noch ein wenig weh in Ihrer Nähe.

Leben Sie wohl! Ich wünsche, ich hörte einmal von Ihnen, daß Sie glücklich geworden sind – Sie wissen, was ich meine.

Immer Ihr treu ergebener     
Dr. Lehmann.“          

Die alte Dame hatte, während Aenne las, Hut und Mantel angelegt, ein Körbchen an den Arm genommen und wartete nur noch auf Mitteilung über den Inhalt des Schreibens, bevor sie ging, für den morgenden Tag einzukaufen.

Aenne sah sie freundlich an. „Mutter ist wohlauf,“ sagte sie, „und er ist studienhalber auf ein paar Tage nach Berlin gereist.

„Kommt er nicht ’mal hierher?“ fragte Tante Emilie.

„Nein, Tante, er hat keine Zeit. Willst du jetzt gehen? Ich hätte dich gern begleitet, aber ich bin ein wenig müde, und wenn auch die Probe ausfällt, durchsingen möchte ich meine Partie doch noch einmal.

„Nun, dann auf Wiedersehen“ nickte die alte Frau. Damit trippelte sie hinaus, und nun war Aenne allein. Sie hielt den Brief des jungen Arztes noch in der Hand, aber ihr Kopf ruhte an dem Polster des hohen altmodische Lehnstuhles, und ihr Blick schweifte über Dächer und Baumgipfel fort bis zu den fernen Höhenzügen, die im Duft des sinkenden Abends verschwammen. Sie seufzte und schüttelte unmerklich den Kopf, seit ein paar Tagen quälten sie plötzlich Zweifel und bange Ahnungen. Wenn ihm bis jetzt nichts gelang, gelingt’s wohl nimmermehr – sie hätte ihn doch nicht ohne eine Hoffnung auf die Zukunft hinausgehen lassen sollen – –!

Wenn sonst dieser quälende Gedanke kam, dann hatte sie ihn noch immer mit dem alten frischen Mut in die Flucht geschlagen, heute wollte ihr das nicht mehr gelingen. Herrgott, innerhalb vier Jahren kein Lebenszeichen! Wenn jemand das wüßte, er würde sie belächeln ob ihres standhaften Wartens. Aber, wachsen denn auch Aemter und Anstellungen gleich Pilzen im Walde für jemand, der sich die nötigen Vorkenntnisse erst erringen muß, und sei es für das geringste Metier, sei es für ein Handwerk?

Nein! Nein! Und nun fing sie wieder an zu überlegen, an welche Küste der Sturm des Schicksals ihn wohl verschlagen haben mochte. Ach, vielleicht war er untergegangen, hatte es nicht vermocht, mit seinen schwachen Kräften das Boot zu steuern? Dann lächelte sie – ach, der Heinz Kerkow, einer von denen, die nur zu wollen brauchen, um ein Ziel zu erreichen, der nur nötig gehabt hatte, wieder wollen zu lernen, der ging nicht unter, der nicht, trotz allem und allem! Und wenn ihn weiter nichts aufrecht hielt, sein trotziges Herz hielt ihn über Wasser! Sie wußte, daß er ihr beweisen würde, kein Feigling, kein Schwächling zu sein. Und während sie dieses dachte, mit Wangen, die tief gerötet waren vor innerer Erregung, hatten ihre Finger den Bindfaden des kleinen Paketes angeknüpft, das graue Papier entfernt, und nun nahm sie aus seiner weißer Umhüllung ein Buch heraus. Auf dem einfachen braunen Kalikoband stand mit großen goldenen Buchstaben quer über dem Vorderdeckel:

„Im Kampf um das Lebensglück“.

Sie hob das Buch näher empor, schlug es auf und las das Titelblatt „Im Kampf um das Lebensglück“. Wahrheitsgetreue Skizzen von einem Schiffbrüchigen. Zehntes Tausend.

Wer schickte ihr denn das Buch mit dem seltsamen Titel? Sie wandte ein zweites Blatt um, und plötzlich stand das Herz ihr still vor großem freudigen Schreck.

Verse! Die alte energische Handschrift, die sie aus den wenigen Zeilen die er einst an sie geschrieben, genau, ach so genau kannte! Sie war aufgesprungen in mächtiger Erregung, sie blickte in ihrem Stübchen umher, als könnte sie es nicht fassen, und dann sank sie wieder zurück in den Stuhl und versuchte zu lesen. Aber die Hände zitterten ihr so, daß sie das Buch nicht zu halten vermochte, sie legte es auf die Fensterbank und beugte sich tief auf die Blätter und im letzten Tagesschein las sie mit überströmenden Augen ….

Aennes Kopf lag plötzlich auf dem Buche, sie weinte, weinte seit langer Zeit zum erstenmal wieder – vor Glück. Dann saß sie, das Buch an sich gepreßt, und ließ die Dunkelheit ihr heißes Gesicht verschleiern. Diese Stunde wog alle die langen traurigen Jahre des Wartens auf, in ihrem Ueberschwang von Hoffnung und Seligkeit. Sie dachte nicht darüber nach, was aus ihm geworden. Sie fragte nicht. wann kommt er? Sie war wie berauscht.

Tante Emilie fand sie noch im Dunklen. „Aber, Kind, was soll denn das heißen?“

Und dann beleuchtete die herbeigeholte Lampe ein erglühendes Gesicht und Augen, die in einem Schimmer erstrahlten, wie die alte Frau sie nur einmal gesehen vor Jahren, damals als Aenne auf den Schloßball ging, kurz bevor s.ie sich mit Günther so Hals über Kopf verlobte.

„Kind,“ fragte die Tante, „ist dir denn etwas geschehen? Aber Aenne schüttelte den Kopf. „Nichts, Tante nur gelesen habe ich etwas und muß auch weiter lesen.“

Und sie setzte sich zum Tisch und fuhr fort in der Lektüre des Buches, und als Tante Emilie doch zum Abendessen mahnte, wurde das Mädchen zum erstenmal in ihrem Leben ungeduldig. Die alte Frau zog es ganz gekränkt vor, ihr Schlafzimmerchen aufzusuchen und die lesetolle, unbegreifliche Aenne allein zu lassen.

Und das Mädchen las und las. Es waren Schilderungen aus Heinz’ eigenem Leben, aus denen Aenne mit pochendem Herzen erfuhr, daß er gleich ihr in der Kunst den verlorenen Herzensfrieden wieder zu finden gesucht hatte. Und wie frühzeitig, schon in Breitenfels hatte er den Grund zu seinem jetzigen Erfolge gelegt! Wie unrecht, wie bitter unrecht hatte sie ihm

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_338.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)