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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

hielten sich mehr nach der Stadt zu, im nördlichen Teil des Gehölzes, wo es gut angelegte Fußwege und ein beliebtes Wirtshaus, die sogenannte Waldschenke, gab.

Hildegard Leuthold hatte sich aufgerichtet, um nötigenfalls rasch die Kahnkette lösen und vom Ufer abstoßen zu können. Da gewahrte sie über dem Erlengebüsch den Kopf und die Brust eines vornehm gekleideten Mannes, den sie sofort als ihren Hausnachbar, den reichen Tuchkramer und Ratsherrn Henrich Lotefend erkannte. Die wohlgewachsene, breitschultrige Gestalt kam weitausschreitend daher und bekundete beim Anblick Hildegards eine freudige Ueberraschung. Lotefend trug ein kostbares violettrotes Wams vom feinsten flandrischen Tuch, mit allerlei modischen Bändern besteckt, dazu Kniehosen von dem nämlichen Stoff und blanke, schnallengeschmückte Halbschuhe. Er verbeugte sich tief, nahm den breitkrämpigen Ratsherrnhut von der Stirn und rief mit gutmütig klingendem Baß:

„Gott sei Dank, daß ich Euch endlich einhole, vielehrsames Fräulein! Von meinem Laboratorium aus gewahrte ich, wie Ihr pfeilschnell dahinfuhrt, konnte Euch aber mit Worten nicht mehr erreichen. So bin ich Euch nachgegangen. Verzeiht, aber Ihr scheint mir unvorsichtig!“

Die Art des Mannes hatte bei dieser Ansprache etwas merkwürdig Gewinnendes und Vertrauenerweckendes.

„Unvorsichtig? Weshalb?“ frug Hildegard Leuthold, ein wenig verblüfft.

„Nun, fürchtet Ihr nicht – Ihr, ein zartes und hilfloses Mägdlein – daß irgend ein Strolch und Gaudieb Euch übel zusetzen möchte, wenn Ihr so schutzlos in diese Wildnis hinausrudert? Ich weiß, Ihr liebt diese Strecke, und bisher mocht’ es auch angeh’n. Neuerdings aber zeigt sich in der Gegend von Lynndorf wieder allerlei fahrendes Volk. Zumal eine Rotte Zigeuner. Dergleichen Gesindel ist von unglaublicher Frechheit. Und Ihr, meine junge Freundin, seid nicht bewaffnet wie ich.

Er wies ihr den Griff einer schwedischen Reiterpistole, die er links in der Brusttasche trug.

Hildegard fuhr zusammen. Der Anblick der silberbeschlagenen Schußwaffe wirkte sofort auf ihre Einbildungskraft.

„Im Ernst?“ fragte sie stammelnd. „Davon wußte ich nichts.“

„Nun, der Rat macht eben kein Aufhebens davon, da die Spitzbuben noch nicht diesseit der Grossach aufgetaucht sind. Man will die Gemüter in Glaustädt nicht vor der Zeit beunruhigen. Vielleicht auch packt man sie ehestens und schiebt sie ins Dernburgsche ab. Immerhin droht Euch hier unleugbar ernste Gefahr. Bedenkt doch, wie nah’ ’s zum Gebirg ist. Wenn Euch sonst gar nichts geschähe, als daß man Euch fortschleppte, um von Eurem Herrn Vater ein tüchtiges Lösegeld zu erpressen …“

Henrich Lotefend übertrieb. Es hatte sich allerdings letzthin bei Lynndorf und Königslautern ein Trupp Zigeuner gezeigt, aber die Leute hatten den Bauern nur im Vorbeigehen etliche Hühner gestohlen und waren dann aus wohlbegründeter Furcht vor der Strenge der Glaustädter Hermandad weiter gezogen über die nahe Grenze. Nur ein sechzig- bis siebzigjähriger Nachzügler war gestern ertappt worden, wie er den Inhaber eines Gehöfts unweit von Koßwig um einen Trunk anging. Hildegard Leuthold indessen war ängstlich geworden. Seltsame Abenteuer fielen ihr bei, die Gertrud Hegreiner in der Kinderstube zu Wittenberg ihr erzählt hatte, und die lebhafte Phantasie des jungen Mädchens spann sich mit einem Male die buntesten Möglichkeiten zurecht. Es war doch ehrlich und wacker von diesem Herrn Lotefend, daß er sich ihrer Unklugheit so freundschaftlich annahm.

„Wenn ich Euch raten soll,“ fuhr der Tuchkramer nach einer Pause fort, „so bedient Ihr Euch jetzt meiner Begleitung.“

„Ja? Wollt Ihr zu mir in den Kahn?“

„Dergleichen darf ich nun leider Gottes nicht wagen. Der Arzt verbietet’s. Doktor Ambrosius hat Euch ja wohl gesagt was ich mir letzthin zugezogen. Ein bösartiges Fieber. Und abends steigen vom Wasser hier allerlei Dünste empor. Denen setzt sich ein eben Geheilter nicht so ungestraft aus. Aber Ihr könntet ja Euern Kahn getrost hier an dem Baum lassen und mit mir zu Fuß gehen. Heimlich entwendet wird Euch das Boot nicht. Das wäre doch keinem zu Nutz’. Der Dieb, der es dann führe, wäre gar leicht gegriffen.“

Der Zufall wollte, daß jetzt ein geller Pfiff durch die Luft scholl, wie wenn aus der Ferne ein Thunichtgut seinem lauernden Spießgefährten ein Zeichen giebt. Es war vielleicht ein harmloser Fuhrknecht unweit der Waldschenke, oder ein Fischer drunten am Einfluß des Glaubaches. Für Hildegard aber entschied dieser Pfiff, der ihr seltsam beängstigend auf die erregten Nerven fiel. Sie nagte ein wenig die Lippe, faßte den Weidenstumpf bei dem obersten Knorren und sprang kurz entschlossen ans Ufer.

„Ich dank’ Euch, Herr Lotefend!“ sagte sie atemholend. „Ihr mögt ja schon recht haben; wenn das Schicksal es wollte, wär’ ich da auf dem schmalen Fluß, der nicht einmal tief ist, kaum vor Angriffen sicher. Morgen schick’ ich den Gärtner und lasse das Boot heimholen. Bis dahin ruht’s ja wohl sicher. Aber das ist doch bedauerlich, daß man dies üble Vagantenvolk nicht besser im Zaume hält. Ich rudre so gern!“

„Ist auch ein wundervolles Vergnügen, zumal in der Sommerszeit. Hätt’ ich nicht mein verwünschtes Fieber gehabt …“

„Das nächste Mal fahr’ ich der alten Haardt zu. Da ist man im freien Feld, zwischen den Aeckern und Wiesen.“

„Ihr werdet wohl daran thun. Freilich, so schön wie im Lynndorfer Hochwald ist’s ja da draußen nicht. Aber das Sprichwort hat recht: Besser bewahrt als beklagt.

Hildegard schlang die Kette noch fester und schob dann die Maiblumen zurecht, die sich bei ihrem Bücken ein wenig gelöst hatten. Nun glättete sie ihr lichtblaues Gewand, hob es ein wenig und schickte sich an, dem freundlich dreinschauenden Ratsherrn zu folgen.

3.

Eine Minute lang gingen die Zwei auf dem grasüberwachsenen Uferweg nebeneinander her, ohne zu reden. Hildegard Leuthold schwieg, weil sie ernsthaft darüber nachsann, wie rasch doch in menschlichen Dingen der Umschwung eintrete. Kaum erst die schöne, vertrauensselige Ausfahrt und dann plötzlich das schnöde Gefühl der Unsicherheit und das Bewußtsein, leichtsinnig und thöricht gehandelt zu haben. Henrich Lotefend schwieg, weil ihn die Nähe des herrlichen jungen Mädchens hier in der stillen Waldeinsamkeit unwiderstehlich berauschte. Wenn Hildegard ihn besser beobachtet hätte, sie würde bemerkt haben, wie seine Faust die den langen goldknöpfigen Stock hielten, leise erbebte und nur allmählich fester und sicherer ward.

Nach einer Weile begann Herr Lotefend mit warmer, tieftöniger Stimme:

„Es ist lange schon her, vielehrsame Jungfrau, daß wir beide uns nicht gesehen haben. Ich preise es hoch, daß mich der erste Ausgang alsbald mit Euch, meiner liebwerten Freundin, zusammenführt.“

„Bin ich das wirklich?“ fragte das junge Mädchen aufblickend. „Habt Ihr Freundschaft für mich?“

„Aus tiefstem Herzen!“ beteuerte Lotefend. „Irgend ein Wesen muß doch der werbliche Mensch haben, dem er in echten selbstloser Teilnahme anhängt.“

„Wie gütig von Euch, daß Ihr mir so verschwenderisch Eure Gunst schenkt! Ich weiß gar nicht, womit ich das alles verdient habe. Indes – auch ich darf Euch bekennen, Ihr seid mir ein werter Freund und Nachbar, dem ich von Grund aus wohl will. Ja, wie soll ich nur sagen …? Ihr habt so eine kurzweilige, frische Art. Nicht so schwer und geschraubt wie andere Männer von Eurer Stellung und Eurem Lebensalter. Ich glaube, das kommt daher, weil Ihr so klug seid und so manches geschaut habt.“

„Ihr schmeichelt mir,“ sagte der Ratsherr. „Ich dünke Euch frischer und kraftvoller als andere – nicht, weil ich klüger oder erfahrener bin, sondern weil ich mir allzeit ein warmes, empfängliches Herz bewahrt habe. Die Jugendlichkeit hängt nicht von den Jahren ab. In mir lebt etwas, teure Hildegard, was mit Eurem Wesen verwandt ist. Wenn ich Euch sehe und höre, fühl’ ich mich ganz und gar wie ein junggrüner fünfundzwanzigjähriger Fant. Und – ehrlich gesagt – ich glaube jetzt fast, ich habe mich deshalb so jung erhalten, weil ich doch eigentlich niemals recht jung gewesen bin.“

Hildegard schaute verwundert in sein aufglühendes Antlitz.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_343.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2016)