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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 23.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

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Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.

(3. Fortsetzung.)

5.

Der dreißigjährige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck hatte am Gusecker Steinweg, unweit der Stadtmauer, ein altes, schwarzgraues, verwittertes Bauwerk als Wohnung inne. Das hohe, viereckige Haus mit den schwer überhängenden Erkern und den plumpen Voluten hatte vor langen Jahrzehnten einem wohlhabenden Großkaufmanne gehört, der es zum Teil als Kornspeicher benutzt hatte. Als dieser Eigentümer ohne Rechtsnachfolger mit Tod abging, war es in den Besitz der Stadt übergegangen. Seit mehreren Jahren leerstehend, sollte es schließlich wegen Baufälligkeit auf Abbruch versteigert werden. Der Ratsarchitekt Woldemar Eimbeck jedoch, der an solcherlei Werken aus Urväterzeit sonderliches Gefallen fand, hatte die Kornburg, wie sie im Volke hieß, um ein Billiges angekauft und sich beim Rat die Erlaubnis erwirkt, den zerfallenen Bau stützen und wiederherstellen zu dürfen. Das kostete freilich Mühe und Geld genug, aber nun war auch etwas ganz Tüchtiges draus geworden, ein Mittelding zwischen kernhaftem Bürgerhaus und trotzigem Adelsschloß, wie es dem etwas phantastischen Sinn des jungen Baumeisters zusagte. Nur die Front schien wenig verändert; das war noch immer die halbvermorschte abenteuerlich düstere Kornburg von ehedem.

Woldemar Eimbeck hauste hier ganz allein mit seiner braven, schwerhörigen Haushälterin, die sich des Vormittags für das Gröbste eine halbwüchsige Zuspringerin hielt. Eimbeck hatte sich die drei Frontstuben des Erdgeschosses als Wohn- und Schlafzimmer, die darübergelegenen zwei als Kunstwerkstatt sehr behäbig, aber gleichfalls im Stile der Vorzeit hergerichtet. Nach dem Hof zu wohnte die Haushälterin. Die oberen Stockwerke, wo früher die Kornsäcke lagerten, um durch die Kettenwinde unter der Giebelspitze je nach Bedarf herunterbefördert zu werden, standen jetzt vollständig leer.

Nachdem Doktor Ambrosius tief bekümmerten Herzens das Unglückshaus am Marktplatz verlassen hatte, wandte er sich durch die Haingasse nach dem nordöstlichen Stadtviertel und erreichte in zehn Minuten den Gusecker Steinweg. Das mächtige Dach der Kornburg schimmerte noch ein wenig im sterbenden Abendschein. Die Gasse selbst lag schon im Halbdunkel.

Doktor Ambrosius trat vor das verschlossene Eichenthor, hob den schweren glattgescheuerten kupfernen Reif, der zwischen den Eckzähnen des Löwenmauls hing, und schlug dreimal fest wider die kleine Metallplatte. Es währte nicht lange, bis drinnen der eiserne Riegel klang und der wuchtige Thorflügel sich in den Angeln drehte. Woldemar Eimbeck öffnete seinem Freund in eigener Person.

„Gott zum Gruß!“ sagte der Ratsbaumeister. „Du kommst spät.“

In der gepflasterten Vorhalle brannte bereits die Wandlampe. Bei dem Luftzug der durch das Oeffnen des Thores entstand, warf sie unruhige Lichter auf die eingemauerten Steinplatten mit den altfränkisch rohen Reliefschilderungen. Die Ritter- und Frauengestalten mit den verwaschenen Zügen und den verstümmelten Händen gewannen ein unheimlich gespenstisches Leben.

„Bin ich der letzte?“ fragte Doktor Ambrosius, als Woldemar Eimbeck die Thür wieder geschlossen hatte. Im eigentlich

Von der Hamburger Gartenbau-Ausstellung: Die Vegetationsgalerie (Motiv „Ceylon“).
Nach einer photographischen Aufnahme von Theod. Reimers in Hamburg.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 373. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_373.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)