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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

nicht zahlreich genug, so werden die Stadtsoldaten und die Knechte des Blutgerichtes allein mit uns fertig.“

Fridolin Geißmar hatte sich wieder gesetzt. Sein hageres Antlitz unter dem brandroten Stirnhaar drückte Verstimmung und Trotz aus. „Oho!“ rief er, da Theodor Welcker jetzt innehielt. „Das käm’ auf die Probe an!“

„Wir wollen doch diese Probe nicht wagen,“ meinte der Rechtsgelehrte aus Dernburg mit freundlich überlegener Ruhe. „Bedenkt doch, mein werter Freund, daß wir nicht alle wie Ihr geschulte Kriegsleute sind! Uebrigens – wozu streiten wir lang’? Ich sehe, die Mehrheit, ja sämtliche Anwesende mit der einzigen Ausnahme von Euch, Herr Hauptmann, stimmen der Meinung Eures gehorsamen Dieners zu. Ihr aber seid ehrlich und pflichttreu genug, Euch zu fügen. Erörtern wir also nicht Dinge, die noch verfrüht sind!“

„Herr Theodor Welcker hat recht! Die Zeit ist kostbar! Es geht auf Zehn. Prüfen wir lieber ohne Verzug die Listen!“

Es waren die Namensverzeichnisse derjenigen Glaustädter Bürger gemeint, die jeder aus der Zahl seiner Bekannten aufgestellt hatte, mit der Vermutung, daß die Vermerkten bereit sein würden, sich der Agitation wider das Malefikantengericht anzuschließen. Es war schon vorher vereinbart worden, daß die zehn Mitglieder des Freiheitsausschusses bei ihrem Eide gehalten sein sollten, keinem der etwa zu werbenden Teilnehmer kund zu thun, wer diesem Ausschuß angehöre. Wenn das Unglück bei dieser Werbethätigkeit eine Entdeckung herbeiführte, war dann doch immer nur grade der eine Verschworene bloßgestellt, ohne Gefährdung des Centralbundes. Die heutige Sitzung hatte der Ratsbaumeister vornehmlich zu dem Zweck anberaumt, jeden der aufgestellten Bürger einer Besprechung zu unterziehen. Nur, wenn die Versammlung seine Anwerbung einstimmig guthieß, sollte der Vorschlagende in möglichst unauffälliger Art den Versuch machen, auf den Genehmigten einzuwirken.

Schneller als man vorausgesetzt hatte, war diese Prüfung erledigt. Die meisten Vorgeschlagenen, deren Aufstellung ja ohnedies von den einzelnen Mitgliedern erst nach reiflichster Ueberlegung erfolgt war, fanden die einstimmige Billigung der Versammlung. Wer die betreffenden Bürger nicht kannte, wie dies mehrfach bei Herrn Theodor Welcker, hier und da auch einmal bei den andern der Fall war, der enthielt sich einfach der Abstimmung. Nur dem Hauptmann Fridolin Geißmar strich die Majorität vier Namen als wenig aussichtsvoll oder verdächtig, was Herr Geißmar übrigens merkwürdigerweise durchaus nicht übelnahm. Er sah jetzt, die Sache ging vorwärts, und das wirkte äußerst wohlthätig auf seine Gemütsverfassung.

Nachdem diese Angelegenheit zur vollen Befriedigung aller geordnet war, füllte man von neuem die Becher, erhob sich und stieß auf gutes Gelingen an.

„Die Freiheit Glaustädts!“ klang es im Chore. „Ein schallendes Pereat dem Balthasar Noß!“

„Und dem Hofmarschall Benno von Treysa!“ rief Woldemar Eimbeck nachdrücklich. „Der ist der Urgrund alles Verderbens. Der hat den Landgrafen erst in diesen Wahnwitz hineingehetzt. Pereat!“

„Aber vergeßt mir nicht den Geheimsekretär Schenck von der Wehlen!“ setzte Herr Theodor Welcker hinzu. „Auch diesem Spitzbuben töne ein Pereat ersten Ranges! Der ist schlimmer als Treysa! Der Schurke hat von Balthasar Noß Prozente. Eine einzige Hexenverbrennung trägt ihm vielleicht mehr Weißpfennige als ein ehrsamer Handwerker Zeit seines Lebens verdient. Pereat!“

Man setzte sich wieder. Herr Theodor Welcker zog ein Schriftstück aus der Brusttasche und warf dem Ratsbaumeister einen fragenden Blick zu, den dieser mit höflichem Kopfnicken beantwortete.

„Liebwerte Genossen,“ begann der Rechtsgelehrte, „vergönnt mir jetzt noch die Mitteilung eines nicht unwichtigen Dokumentes. Das Aktenstücks dessen wörtliches Duplikat ich hier bei mir führe, liefert uns den Beweis, daß man doch endlich höheren Ortes beginnt, die barbarischen Ausschreitungen des Malefikantenprozesses nicht mehr so ganz gleichmütig hinzunehmen wie bis vor kurzem. Es handelt sich um ein Mandat des Reichskammergerichtes gegen den Zentgrafen und die Schöffen des Malefikantengerichts zu Fulda. Bis jetzt waren Beschwerden, die von Angeklagten im Hexenprozeß bei dem obersten Tribunal zu Wetzlar versucht wurden, immer erfolglos. Ihr wißt ja, die Zauberei gilt als crimen exceptum, als Ausnahmeverbrechen, auf das alle sonst wirksamen Rechtsgrundsätze kaum eine Anwendung finden. Dieser Tage jedoch hat das Reichskammergericht – wie es heißt, unter dem Einfluß eines neu kreierten menschenfreundlichen Mitgliedes, das unterdes leider plötzlich verstorben ist – eine Rechtsmeinung von sich gegeben, die offenbar eine Wendung zum Besseren bedeutet. Große Hoffnungen darf man ja freilich an diesen vereinzelten Fall nicht knüpfen. Immerhin zeigt er, daß die Wetzlarer Richter den Vorstellungen der Billigkeit und der gesunden Vernunft nicht so vollständig unzugänglich sind, wie bis dahin geglaubt wurde. Ich will noch bemerken, daß die Beschwerdeführerin allerdings einen sehr gewichtigen Fürsprecher in der Person ihres Beichtvaters hatte.“

Theodor Welcker entfaltete nun das graugelbe Folioblatt und las den Text des Mandates vor.

Das Aktenstück wiederholte dem Fuldaer Tribunal, zuerst die beeidigte Aussage dieses Beichtigers, eines im Rufe besonderer Heiligkeit stehenden fünfundsechzigjährigen Priesters, der seinem Beichtkind rückhaltlos das eifrigste Lob zollte und ausdrücklich erklärte, daß er den Abfall der Beschuldigten von Gott und der Kirche für einfach unmöglich halte.

Dann hieß es wörtlich wie folgt:

„Dies alles hintangesetzt, habt Ihr, Zentgraf, Schöffen und Richter, die Inkulpatin ohne jeglichen Grund für eine Hexe erklärt – bloß weil drei der nämlichen Unthat beschuldigte Weiber sie dafür angesehen haben sollen. Ohne weitere Erkundigungen habt Ihr sie aufgegriffen und in den Hundestall neben dem Backhaus des Fuldaer Schlosses einsperren lassen. Ihr habt sie an Händen und Füßen in der grausamsten Weise gefesselt und sie gezwungen, in dem engsten Gelaß zu verweilen, wo sie gekrümmt und gebückt sich weder bewegen noch regen kann. Obwohl nun außer dem Zeugnisse der drei heillosen Weiber nicht die geringsten Indicia der Zauberei gegen sie vorliegen und ihr Ehewirt sich erbeut, ihre Unschuld in Rechten darzuthun, auch um Erleichterung ihrer Haft und um Zeit zur Verteidigung nachsucht, habt Ihr, Zentgraf, Schöffen, und Richter, diese gerechtfertigte Bitte rundweg abgeschlagen. Die Beschwerdeführerin hat sonach zu erwarten, daß Ihr zu unerträglicher Tortur fortschreiten und ihr demnächst einen schmach- und qualvollen Tod anthun werdet. Derohalb erlassen wir andurch den strengsten Befehl, bei Pön von zehn Mark lötigen Goldes der Beschwerdeführerin augenblicks ein mildes, leidliches Gefängnis zu geben, sie ohne wesentliche Indicia nicht zu foltern und dem Verteidiger, der zu ihrer Verantwortung nötig ist, unweigerlich Eintritt in ihre Haft zu gestatten.

So geschehen Wetzlar am einundzwanzigsten Maji, Anno Domini Eintausendsechshundertundachtzig.“

Als der Vorleser schwieg, entstand ein vieldeutiges Murmeln, bei dem die Entrüstung über das Fuldaer Stadtgericht offenbar einen größeren Anteil hatte als die Genugthuung über die unerwartete Aufgeklärtheit und Intelligenz des Reichskammergerichts. Der rothaarige Hauptmann Fridolin Geißmar hatte während der Vorlesung mehrfach heftig genickt. Jetzt rief er mit schneidendem Hohn, als freue er sich, dem Rechtsgelehrten von Dernburg hier etwas heim zu zahlen:

„Fürtrefflich! Wenn das Reichskammergericht nur nicht leider Gottes das Reichskammergericht wäre! Ich kenne den Fall! Der Beichtvater dieser Unglücklichen war ein Jugendfreund meines Vaters und ihm getreulich zugethan, trotz der Verschiedenheit im Bekenntnis. Als ich ein Kind war und Philipp Von-Zehl noch Kurat in Guseck – dort giebts ja noch eine Handvoll Katholische – da hab’ ich wie hundertmal auf seinem Knie geritten und ihn von Herzen gern gehabt. Wir stehen heut’ noch im Briefwechsel. Und just vorgestern, zu meinem Geburtstag, schrieb er mir – wir schreiben uns alle Jahr zweimal – und erzählte mir auch von dem Wetzlarer Mandat, das Ihr, mein gelehrter Herr, jetzt eben da vorgetragen. Aber er fügte hinzu, was Ihr offenbar nicht wißt, daß die Herren vom Reichskammergericht nach ihrer alten Gewohnheit wieder, post festum kamen. Als das Wetzlarer Mandat eintraf, war die Beschuldigte nicht nur bereits torquiert, sondern auch rechtskräftig verurteilt, nach dem Richtplatz geschleppt und bei lebendigem Leibe verbrannt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_375.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2022)