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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

hinaus auf die hochragende Mauer, die das Gärtchen nach der Prohnsgasse hin abschloß. Hier hatte ursprünglich ein ziegelgedeckter Schuppen für Nutzholz gestanden. Der Zunftobermeister hatte den unschönen Bau abgebrochen und nur die Rückwand stehen lassen, die sich dann zwischen den rechts und links anstoßenden Fachwerkhäusern ein wenig kahl ausnahm. So ward sie denn von Mannshöhe ab mit einer grellfarbigen Landschaft bemalt, unten am Fuß aber mit allerlei Buschwerk bepflanzt, das einen hübschen, die Täuschung verstärkenden Vordergrund abgab. Es war kein großes Talent, das sich in Saftgrün und Waschblau hier so verschwenderisch ausgelebt. Dennoch hatte sich Elma Wedekind oft genug vor dem Bild in Ekstase geträumt. Ein wahres Eden für die ungeschulte Lebhaftigkeit einer schwärmenden Phantasie. Zur Linken schön bewaldete Hügel. Rechts eine turmreiche Hafenstadt. Dahinter das Meer. Fern am äußersten Himmelsrand zog ein dustgrauer Dreimaster seine Bahn durch das hellschimmernde Wasser – mit Segeln, die sich aufbauschten wie die Wangen eines Posaunenengels. Dieser mächtige Dreimaster war für Elma von je der Gegenstand ganz besonderen Interesses gewesen. Sie hatte noch nie ein wirkliches Schiff gesehen, auf der Grossach, die noch unterhalb Glaustädts von Mühlwehren durchkreuzt war, ruderten nur ganz wenige Lustboote. Jetzt, wie ihr halbverschleierter Blick von der Bank in der Laube aus den Segler da an der bemalten Wand streifte, überkam sie der stürmische Drang einer fast qualvollen Sehnsucht ins Weite. Glaustädt erschien ihr mit einem Male wie der Inbegriff alles Dumpfen und Schrecklichen. Hätte sie doch ihre Lieben am fernsten Strand einschiffen und mit ihnen gemeinsam über die See nach einem unbekannten glücklichen Land steuern dürfen, wo man vom Elend dieser Verfolgung nichts wußte, wo’s keinen Balthasar Noß gab und keinen blindwütigen Adam Xylander!

Freilich, auch drüben in Dernburg, unter dem Scepter des Fürsten Maximilian, gab es ja längst keine Malefikantengerichte mehr. Etliche Glaustädter waren schon ins Fürstentum ausgewandert. Elma jedoch hätte sich, wie sie jetzt meinte, so in der Nähe der Glaustädter Grenze nicht sicher gefühlt. Eine maßlose Angst überkam sie. Die wenigen Tage seit der Verhaftung der Mutter hatten ihr kindliches Gemüt vollständig ausgereift. Ehedem war ihr die mitleidslose Verfolgung des Hexenwesens notwendig und verdienstlich erschienen. Jetzt fühlte sie, daß all’ dies schreckhafte Treiben nur die Frucht eines entsetzlichen Irrtums war. Mit dieser Erkenntnis schwand ihr die letzte Sicherheit. Nun war alles denkbar und alles möglich! Hätte ihr der Allmächtige doch früher die Augen geöffnet! Elma entsann sich, daß vor drittehalb Jahren vielleicht, oder auch länger, in Glaustädt ein wohlhabender Fremdling aufgetaucht war… Der reiste im Namen des Königs von England und machte den Glaustädter Bürgern große Versprechungen, falls sie die Heimat aufgäben und über das Weltmeer führen. Ackerland sollten die Leute bekommen, so viel sie begehrten, und die eine Kunst verstünden oder ein Handwerk, die würden da drüben Tausende ernten, wo sie in Glaustädt nur Hunderte einheimsten. Aber der Vater war bei dem Grundsatz verharrt: Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Auch wurde der Fremdling trotz seiner Ansehnlichkeit sehr bald vom Glaustädter Rat aus der Stadt verwiesen. – Hätte man damals geahnt, wie es noch kommen würde! Ach, welch ein himmlisches Glück, wenn sich der Kerker jetzt aufthäte und sie dann alle hinauszögen in die Sorglosigkeit und Freiheit, der Vater, die herzliebe Mutter, sie selbst und etliche nahe Freunde, auf daß man nicht gar so einsam wäre da drüben, jenseit des großen Wassers!

Vielleicht auch Doktor Ambrosius …?

Aber nein! Was fragte der wohl nach ihr und den einfachen Schreinersleuten! Der betrat jetzt mit stillem Behagen das vornehme, stattliche Haus in der Grossachstraße und saß dann plaudernd und scherzend bei der entzückenden Hildegard. Ja, entzückend! Das war sie trotz allem und allem! Es frommte ja nichts, wenn man’s in kleinlichen Neid vor sich selbst abstritt. Man brauchte sie nur daherwandeln zu sehen in ihrer anmutig edlen Art, mit dem schlanken, biegsamen Wuchs und dem süßen lichtstrahlenden Antlitz, um zu begreifen, daß Doktor Ambrosius ihr voll Zärtlichkeit anhängen mußte. Es war so natürlich.

Und sie paßten so gut zu einander, er, der kluge, herrliche, kraftvolle Mann – und sie, die schönste minnigste Jungfrau der ganzen Stadt, die treueste Tochter, die allgeliebte Wohlthäterin der Armen und Kranken. Elma Wedekind gönnte ihr diesen Liebsten. Und auch ihm gönnte sie das holdselige Mädchen, das einzige hier im Glaustädter Weichbild, das gut genug für ihn war. Nur hätte auch sie, Elma, neben Hildegard Leuthold ein stilles, bescheidenes Plätzchen in seinem Herzen einnehmen mögen, die Stelle vielleicht einer treusorgenden Schwester, einer ehrfürchtig dankbaren Freundin, irgend was sonst, was da nicht zugab, daß er sich ganz und gar von ihr lostrennte. Ach, weshalb nur war sie so unbedeutend, so einfältig! Hätte sie wenigstens als seine Magd immerdar um ihn sein dürfen! Es war schon beglückend, seiner volltönigen Stimme zu lauschen!

Plötzlich schrak sie empor. Der Altgeselle Rudloff, der jetzt eben gevespert hatte und nun, das Vorrecht seines Altgesellentums ausnutzend, für eine kurze Erholungsfrist heraus in den Garten kam, stand an der Geißblattlaube und rief die Haustochter treuherzig beim Namen. „Fehlt Euch etwas, Jungfräulein?“ fügte er teilnehmend hinzu.

„Nein, Rudloff. Nichts, was Ihr nicht wüßtet.“

„Ihr seht so krank aus! Oder macht das die Laube mit ihrem Wiederschein?“

„Ist der Vater zurück?“ fragte sie ausweichend.

„Noch nicht. Aber bei Gott, Ihr macht mich besorgt! Ihr zittert ja!“

„Das macht, weil Ihr so jählings hereinkamt.“

„O verzeiht! Ich dachte nichts Böses. Aber die Schreckhaftigkeit ist auch eine Krankheit. Wahrlich, vielehrsames Jungfräulein, Ihr solltet mehr für Euch thun! Ihr habt Euch all’ die Tage her wahnwitzig aufgeregt. Das kann der kräftigste Mensch nicht ertragen. Und Ihr seid nicht die Stärkste. Man muß auch einmal der Trauer den Weg verlegen. Weiß Gott, ich könnte gleich losheulen, wenn ich so zusehe, wie Ihr vor Gram Euch verzehrt! Und es hilft doch nichts!“

„Freilich – es hilft nichts.“

„Glaubt mir, wenn es in meiner Macht läge …! Ich ließe mir ja mit Freuden die rechte Hand abhacken. Und wolltet Ihr nur auf ein gutmeinendes Wort hören! Aber Ihr seid so starr und so finster, und ich merk’ es ja wohl, ich gelte Euch nichts!“

Ein feuchter Glanz trat ihm in die ehrlichen Augen. Elma Wedekind fühlte zum erstenmal, wie es um Rudloff bestellt war. Daß er sie gern mochte – ja, das wußte sie längst. Nun aber sah sie, daß es sich hier um mehr handelte. Und sie stand ja nun auch im sechzehnten Lebensjahr. Da schien’s ja am Ende nicht unerhört …

Wäre das früher gekommen, ehe der junge Arzt in die Wohnung zog, sie hätte vielleicht die versteckte Werbung als ein schätzbares Glück betrachtet. Gerade bei dem unendlichen Leid, das die Familie heimsuchte, mußte die Neigung, die sich hier offenbarte, an Wert gewinnen. Und Rudloff war ein so guter, vortrefflicher Mensch und ein so tüchtiger Arbeiter. Auch Erscheinung und Wesen hatten etwas nicht ganz Alltägliches. Wie er so dastand in dem blaugeränderten Werkstattshemd und dem zackigen braungelben Schurzfell, das lockige Haar ein wenig über die wohlgebildete Stirn hängend, da konnte er’s mit jedem Glaustädter Zunftgenossen getrost aufnehmen. Aber im Herzen Elmas ward für den liebeheischenden Ton, den Rudloff angeschlagen, leider kein Echo wach. Seit sie mit Doktor Ambrosius unter dem nämlichen Dach hauste, war diese Möglichkeit ausgeschlossen.

Wenn ihr gleichwohl die Sache nicht unlieb war und ihr sogar ein stilles Gefühl der Dankbarkeit gegen Rudloff einflößte, so hatte dies einen Grund, der den ehrlichen Altgesellen, falls er darum gewußt hätte, tief hätte schmerzen müssen, tiefer selbst als eine schroffe Zurückweisung. Es gewährte ihr nämlich eine wahre Genugthuung, daß ein so ansehnlicher und hochachtbarer Mensch wie Rudloff, der doch die Wahl hatte unter den Hübschesten, sie, die unbedeutende Elma Wedekind, begehrenswert fand. Das stärkte ihr durstiges Selbstgefühl. Unbewußt sagte sie sich, nun sei es am Ende ja doch möglich, daß Doktor Ambrosius … Sie wagte es nicht, diesen tollkühnen Gedanken vor sich selber in Worte zu kleiden.

Und wärmer als je zuvor drückte sie dem treuherzige Rudloff

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_411.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2016)