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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

sich immer noch mit dem schönen Gedanken, Woldemar Eimbeck sei von ihrem leuchtenden Rotblond hingerissen, obwohl er bisher doch ganz offenbar die Tochter des Stadtpfarrers, die lustige, lebensprühende Margret Melchers, bevorzugt hatte. In Wirklichkeit war Woldemar Eimbeck so durchaus von den Zwecken und Zielen seines Geheimbundes in Anspruch genommen, daß alles Uebrige, die reizende Margret nicht ausgenommen, zunächst in den Hintergrund trat. Sogar die Berufsarbeiten litten nicht unerheblich. Wenn er jetzt zu dem angesagten Komödienspiel nach der Waldschenke kam, so geschah dies mehr aus Zweckmäßigkeitsgründen als um der Sache willen. Er glaubte, sich ab und zu bei einer derartigen Lustbarkeit zeigen zu müssen, um in den Augen der großen Menge für harmlos und weltfreudig zu gelten. Aus der gleichen Erwägung heraus folgte er mit Vergnügen der Einladung des landgräflichen Oberförsters und setzte sich breit und behaglich zwischen Elsbeth und Dorothea. Die Nachbarschaft der rotblonden Mädchen, als der Sprößlinge des ehrenfesten Stadtoberhauptes, stempelte ihn, für alle ersichtlich, zu einem unverdächtigen Anhänger der bestehenden Ordnung.

Der Magister und der Notar hatten sich durch das Erscheinen der Bürgermeisterstöchter nur ganz flüchtig in ihrem eifrigen Zwiegespräch stören lassen. Dies Zwiegespräch wandte sich jetzt – mehr andeutungsweise als in greifbaren Wendungen – den Zeitläufen und insbesondere den Verhältnissen Glaustädts zu.

„Wär’ ich an Eurer Stelle,“ sagte Rolf Weigel, „ich kehrte dem alten Nest hier schleunigst den Rücken. Ihr, mein Teuerster, könnt doch leben, wo’s Euch beliebt! Ich bin leider Gottes durch meinen Beruf an die Glaustädter Scholle gebunden.

„Freilich,“ versetzte Leuthold, „mir steht ja die Welt offen. Längst schon hätt’ ich vielleicht mein Bündel wieder geschnürt, wenn nicht das neue Besitztum wäre, das mich doch gewissermaßen hier festhält. Trotzdem – ganz unter uns: ich gehe schon mit dem Gedanken um, wenn sich nicht manches in Glaustädt ändert, mein Anwesen zu verkaufen. Bis künftige Weihnacht will ich noch warten. Dann aber … Es fällt mir zwar überaus schwer. Je älter man wird … Kaum hier eingewöhnt, schon wieder Valet sagen! Und die Sehnsucht nach der geliebten Heimat war doch ein Hauptgrund, weshalb ich den Wittenbergern mein Amt vor die Füße warf … Immerhin. Es giebt Zustände …“

„Vorsicht!“ flüsterte Weigel mit einem Blick auf zwei halbwüchsige Burschen, die plumpneugierig hergelauscht hatten.

„In der That …“ lächelte Leuthold. „Reden wir von was anderm!“

Und der Notar wandte sich mit einem artigen Scherzwort an die träumerisch dasitzende Hildegard.

Endlich kam auch Doktor Ambrosius. Im Gertraudenhof hatte man ihn weit länger aufgehalten, als er vorhergesehen. Er bat um Entschuldigung. Einer der Schenkbuben in Lynndorfer Tracht setzte ihm einen Trunk vor.

Bald danach scholl von der Schaubühne her eine Trompetenfanfare, zum Zeichen, daß die Zuschauer ihre Plätze aufsuchen sollten.

Nach zehn geräuschvollen Minuten war alles glücklich untergebracht. Hildegard saß zwischen Doktor Ambrosius und ihrem Vater. Rechts von dem Vater saß der Notar.

Ein Glockensignal. Der Vorhang ging auf. Man spielte einen zugkräftigen Schwank aus dem Französischen. Paphnutin Zähler war in der That zwerchfellerschütternd, während die lebhaft beklatschte Demoiselle Haricourt durch ihre Anmut und Keckheit besonders die Männerwelt in lautes Entzücken versetzte. Am Ende des zweiten Aktes führte sie einen graziös leidenschaftlichen Tanz auf und weckte damit einen wahren Orkan der Begeisterung.

Als der Applaus sich gelegt hatte, vernahm Hildegard Leuthold unmittelbar hinter sich einen halb unterdrückten Ausruf, der wie ein seltsamer Nachzügler dieses tosenden Sturmes klang, wie ein derber Naturlaut, unwillkürlich hervorgequollen aus der Tiefe einer starkfühlenden, mächtig erregten Brust. Sie drehte sich um.

Da fiel ihr Blick in das nämliche breitblühende Antlitz, das ihr vor wenigen Stunden von der Empore des Gotteshauses herab ein so unsagbares Grausen eingeflößt hatte. Es war der Vorsitzer des Malefikantengerichts, Balthasar Noß, dem dies verspätete Beifallsjauchzen entschlüpft war. Der gefürchtete Blutrihter saß hier mitten unter den harmlosen Zuschauern und schwelgte behäbig im Anblick der reizvollen Frauengestalt dort auf der Schaubühne. Balthasar Noß gehörte eben zu den praktischen Weltweisen, die nach gethaner Arbeit dies flüchtige Leben genießen. Seine Vorliebe für eine glänzend besetzte Tafel war stadtbekannt. Ebensosehr aber schwärmte Herr Noß für weibliche Schönheit, obgleich sein Geschmack in dieser Beziehung etwas befremdlich schien. Edle, vornehme Jungfräulichkeit, wie sie zum Beispiel in Hildegard Leuthold verkörpert war, ließ ihn vollständig kalt. Er schätzte nur zwei Extreme: bäuerlich dralle Urwüchsigkeit oder das leichtfertig Frivole. Aus Rücksicht auf seine Stellung suchte er zwar möglichst den Schein zu wahren. Ab und zu drangen jedoch denkwürdige Einzelheiten aus seinen vielfachen Minnefahrten ans Tageslicht. Jetzt hatte er augenscheinlich in Demoiselle Haricourt einen unerwarteten Gegenstand seiner Teilnahme gefunden. Es spann sich hier etwas an, was je nach Umständen auf sehr verschiedene Art enden konnte. War Demoiselle Haricourt willig und freundlich, dann drohte ihr nur die heimliche Gunst des Furchtbaren. Wenn sie jedoch rebellisch war und ohne Verständnis für diese Auszeichnung, dann konnte kein Mensch voraussagen, wie bald sie die Schaubühne da mit einer Zelle im Stockhaus vertausche würde. Die Patrioten des Freiheitsausschusses waren genau davon unterrichtet, daß Balthasar Noß wenigstens früher derartige Bubenstücke mehrfach geleistet hatte.

Hildegard Leuthold riß durch ihr plötzliches Umsehen den Malefikantenrichter aus seiner schönen Beschaulichkeit. Der Schreck, um nicht zu sagen der Abscheu, malte sich ihr so unverkennbar auf dem verstörten Antlitz, daß ihr der davon peinlich berührte Noß einen recht unwirschen Blick zuwarf. Unerhört. Wer war diese anmaßliche Glaustädterin, die sich erdreistete, ihn, den Gewaltigen über Leben und Tod, anzustarren, als möchte sie ihm ehestens Gift in den Wein träufeln? Zum erstenmal in ihrem Leben hatte die liebreizende Hildegard Leuthold Widerwillen und Zorn erregt.

Während des ganzen weiteren Verlaufs der Posse war es dem jungen Mädchen unfroh und bänglich ums Herz. Sie meinte, die grauen, stechenden Augen des Blutrichters wie zwei bohrende Pfeile im Nacken zu spüren. Als der Vorhang gefallen war, horchte sie auf, ob sich der eigentümliche Beifallston aus der Kehle des Noß wiederhole. Aber sie hörte nur unverständliches Stimmengewirr und das Knarren der Sitze. Doktor Ambrosius richtete eine Frage an sie, auf die sie zerstreut antwortete. Im Drang einer unerklärlichen Regung wandte sie nochmals den Kopf. Der Platz des Malefikantenrichters war leer, obgleich noch ein kurzes Nachspiel in Aussicht stand. Die hübsche Französin hatte hierbei allerdings nicht mitzuwirken.

Nach zwanzig Minuten fiel auch über das lustige Nachspiel der Vorhang. Die Bänke und Stuhlreihen leerten sich. Viele der Zuschauer machten sich schon jetzt auf den Heimweg. Die Leutholds aber mit Doktor Ambrosius und dem Notar suchten sich einen Tisch an der äußersten Hofmauer, wo man den Blick über die weite Glaustädter Flur hatte. Hier gönnte man sich einen ländlichen Imbiß und einen faßkühlen Trunk. Es war der entzückendste Sommerabend. Der Tag schien heute nicht enden zu wollen. Die ganze Westseite des Himmels bis zum Zenit flammte in lichtem Rot.

Nach eine Weile kam auch die Mondscheibe hinter den Hügeln herauf und goß ihren milden Schein auf den schlummernden Waldessaum und die reich prangenden Kornfelder. Man sprach über den drolligen Schwank. Der Magister und der Notar, der gleichfalls ein Kenner der altklassischen Litteratur war, zogen Vergleiche zwischen der welschen Komödie und einem Lustspiel des Plautus. Auch Doktor Ambrosius und Hildegard nahmen teil an diesen Erörterungen, bis sie dann, unabhängig von dem Gespräch der andern, auf ein minder kritisches Thema gerieten. Weder sie, noch Weigel und der Magister merkten, daß sich die Waldschenke rasch leerte.

Erst gegen halb Elf gab der Magister das Zeichen zum Aufbruch. Eine tüchtige Strecke weit hatten die vier den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 434. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_434.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2016)