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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Weiter, als die Balken gehn, kann niemand, da ist’s zu Ende.“ – „Wenn er sich nicht in eine Glocke verkrochen hat und als Klöppel drin hängt, kann er hier nirgendwo stecken. – Sie lachten, die Sprossen der noch weiter nach oben führenden Leiter krachten, sie stiegen vorbei. Alban hatte den Atem angehalten, in der Höhe über sich hörte er eine knirschende Eisenluke öffnen, die vermutlich auf einen letzten Austritt des Turms führte. Nur kurze Weile verstrich, da kehrten die Fußtritte abwärts zurück. „Wenn er nicht, wie eine Spinne am Stein läuft, hat er auf die Spitze nicht hinaufgekonnt. – „Vielleicht reitet er auf dem Kreuz, dann sehen wir ihn von unten und können ein Vogelschießen abhalten!“

Ein Lachen lief wieder zwischen den Glocken um, dann tönten die Stimmen schon von dem Absatz der Türmerwohnung her: „Oben ist er auch nicht, wenn er nicht so ausgehungert ist, daß er in einem Mausloch Platz hat.“ – „Wahrscheinlich haben sie ihn jetzt drunten am Kragen, in der Kirche muß er irgendwo stecken!“

Und nun wieder schweigende Stille, nur in Zwischenräumen kurz vom Schlagen der Uhrglocke unterbrochen. In der That, es war unumgänglich nötig gewesen, daß man ihn hier verborgen hatte, überall sonst im Turm wäre er von den Nachspürenden entdeckt worden. Polizisten mußten es gewesen sein, sie hatten eine Art Uniform getragen; einer von ihnen, obgleich ein noch junger Mann, wohl die eines Sergeanten. Offenbar ward in der Stadt alles aufgeboten, des denunzierten Freischärlers habhaft zu werden.

Alban saß lauschend, ob nichts wieder von der Wohnung des Türmers herklinge, doch Stunde um Stunde vergeblich. Nur Sonnenfunken sprangen durch das nach Osten gerichtete Schallloch herein, schnellten sich hierhin und dorthin über das Gebälk und die Glocken und schienen plötzlich von einer unsichtbaren Hand ausgelöscht zu werden. Aus seinem Versteck sah Alban dem Lichtspiel zu, so hatte es gestern vormittag noch im Wald um ihn durch die Blätter geflimmert. Doch ihm lag’s im Gefühl, als müßte weit längere Zeit seitdem vergangen sein, gleich Tagen, einer Woche schien es hinter ihm. Ihm war’s, er sei in eine Märchenwelt versetzt, und wie ein Knabe beim Lesen eines Märchens, so harre er gespannt darauf, was in der verzauberten Wirklichkeit weiter mit ihm geschehen solle.

Langanhaltend dröhnte nun wieder die Uhrglocke – Mittagsstunde war’s, und jetzt ins Ausklingen des letzten Schlages mischte sich ein andrer Ton, der den Aufhorchenden mit freudiger Empfindung durchlief. Nur einmal hatte er ihn gehört, gestern in der Finsternis beim Treppenaufstieg. Doch er erkannte den leichten Fußtritt wieder. Und da hob sich schimmernd das blonde Haar Gerlinds an den Leitersprossen empor, sie trat behend auf den Balken über, kam hurtig auf ihn heran. In der Hand trug sie einen langen Stock, hielt nun an und fragte mit halblauter Stimme: „Ihr schlaft doch nicht im Nest?“

Er antwortete: „Nein – es ist freundlich von dir, daß du kommst!“

Rasch gab sie zurück: „Ich bringe Euch zu essen, Ihr müßt hungrig sein. Früher konnt ich’s nicht und muß gleich wieder hinunter. Da, seht Ihr’s?“

Die Stange hob sich zu ihm auf, an ihrem Oberende war, in Papier gewickelt, ein Stück warmen frisch zubereiteten Fleisches und etwas Brot befestigt. Das von ihr gebrauchte Wort paßte gut, es hatte etwas davon, wie wenn droben in einem Nest ein unflügger Vogel gefüttert würde. Ein kleines Weilchen blieb sie doch noch stehen und sagte: „Haltet Ihr’s noch aus? Ihr müßt’s schon, dürft noch nicht herunter; könnt’ ich’s nur, macht’ ich’s Euch gern bequem, wollte Euch ablösen, droben zu sitzen. Wie hab’ ich still in mich hinein gelacht, als ich ihn an Euch vorbeisteigen und reden hörte. Aber unten in der Kirche suchen sie immer noch. Der Polizeihauptmann ist überzeugt, daß Ihr Euch drin versteckt haben müßt. Wie ich zu Mittag einkaufte, sah ich drunten zu, sie sind ganz versessen auf Euch und haben sogar ein paar Grabplatten aufgehoben. Mir kam’s vor, als müsse ein strenger Befehl gekommen sein und jeder auf große Belohnung hoffen.“

Ein leichter Seufzer begleitete die letzten Worte, und hinterdrein fügte das Mädchen eine seinen Lippen absonderlich stehende philosophische Bemerkung: „So ist’s einmal auf der Welt, was dem einen Unglück bringt, das bringt dem andern Glück. Aber lieber wollt’ ich keins, und wenn’s mein Leben kosten sollt’, ich gäb’s dran, eh’ ich Euch im Stiche ließe. Nun habt Geduld und haltet Euch gut, bis Ihr wieder unten bei uns seid! Kann ich’s, so komme ich nachher wieder herauf, Euch etwas Gesellschaft zu leisten, wenn mein Gered’ Euch nicht zu einseitig ist. Da giebt der Vater das Zeichen, ich muß hinunter!“

Ein kurz klopfender Ton war von unten her geklungen und Gerlind in einem Nu, wie auf Flügeln niedertauchend, verschwunden. Ward die Durchsuchung der Toraltschen Behausung wiederholt? Alban horchte: es kam wieder etwas aus der Kirche herauf, und bald danach vernahm er auch einige Worte, glaubte die Stimme des Polizeisergeanten zu erkennen. Doch was dieser sagte, blieb unverständlich, eine Thür schloß sich und es ward still.

Ihm schlug plötzlich das Herz schneller, in Unruhe. Wenn er doch noch aufgefunden wurde, so brachte er auch über die beiden Unheil, den Alten und das Mädchen! Die Vorstellung überkam ihn beängstigend, weckte Selbstvorwürfe in ihm. Lieber wollte er sich selbst ausliefern – die Treppe hinunter in die Kirche schleichen und thun, als ob er dort aus einem Schlupfwinkel auftauche. Aber er mußte bleiben, konnte ohne die Leiter nicht von seinem Sitz herab. Ein Sprung hätte ihn unfehlbar zerschmettert in die Tiefe gestürzt, und davor bangte er zurück, denn – es war ja so schön zu leben!

Allmählich beruhigte er sich wieder, Viertelstunden vergingen, und nichts regte sich. Er hatte sich doch wohl in der Stimme getäuscht, man hegte keinen Verdacht mehr.

Für sich selbst konnte er nun ganz unbesorgt sein. Aber Gerlind – wie hatte sie doch gesagt? Ehe sie ihn im Stich ließe, gäbe sie ihr Leben dran! Dem Verstummen der Glocke ähnlich, gingen die Worte in leise nachhallenden Schwingungen durch seine Seele. Er fühlte, sie hatte es nicht leichthin gesagt, sondern thäte es wirklich. Zwar kaum begreiflich – für ihn, den Fremden, den sie gestern zum erstenmal gesehen! Aber sie war die Tochter ihres Vaters, der auch furchtlos, was er war und besaß, dransetzte, einen bedrohten Flüchtling zu retten.

Er schloß die Lider, schlief aber nicht und blieb sich seines gefährliche Sitzes bewußt, denn er wollte ja nicht stürzen. Aber in dem Halbtraumzustand, der ihn befing, wiederholte er sich immer die Frage: „Thäte sie’s nur deshalb, weil sie die Tochter ihres Vaters ist?“

Das Licht unter ihm änderte sich, doch ward es nicht dunkler, vielmehr wieder heller, nur von einer anderen Seite her. Die Sonne mußte nach Westen hinübergegangen sein und anfangen, das dorthin gerichtete Schallloch zu streifen. Richtig, da begannen auch wieder Goldfunken zu sprühen.

Da nahm plötzlich einer von ihnen eine helle Stimme an und fragte mit ihr: „Wie unterhaltet Ihr Euch mit den Fledermäusen? Haben sie Euch etwas über die Langeweile hingeholfen? Es sind possierliche Dinger, ich mag sie gern und hab’ manchmal hier allein gesessen und mit ihnen geschwatzt.“

Er hatte keinen Schritt gehört, und ihm war’s, als spräche die Stimme im Traum zu ihm. Aber unwillkürlich schlug er die Augen auf, und da stand Gerlind Toralt unter ihm auf dem Balken, doch halb ungewiß noch fragte er: „Bist du’s?“

„Wer sollt’ Euch sonst hier besuchen?“ Sie antwortete es lachend, diesmal in fröhlichstem ungekünsteltem Thon. „Ich konnte nicht eher kommen, aber jetzt ging’s.

Bei ihrem letzten Wort flog Alban ein Schrei vom Mund. Es war ihm, als schwanke sie, gleite und falle – ihm ward es schwarz vor Augen. Da klang indes ihre Stimme wieder: „Was ist Euch?“

Zitternd erwiderte er: „Ich glaubte, du –“ er konnte das Wort nicht aussprechen. Sie nahm’s ihm vom Mund. „Ihr meintet, ich fiele? Das hätte auch keine Gefahr, ich bin ein Turmkind und hielte mich wie ein Laubfrosch am Glockenseil.

Mit kinderhaftem frohsinnigem Uebermut sagte sie’s, und nun sah er: sie hatte sich auf den Balken gesetzt, ließ die Füße über der Tiefe herabhängen und hielt sich mit einer Hand an einem neben ihr aus der Höhe niederschwebenden Strick. Es war auch thöricht gewesen, zu fürchten, sie könne stürzen; von ihrer sicheren Gewandtheit abgesehen, hatte, was der Märchenwelt angehörte, ja Flügel oder schwebte, wenn es wollte, von selbst leicht in der Luft.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_480.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)