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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nun sprach sie von ihrem Sitz aus weiter. „Thut der Arm Euch sehr weh? Ich muß immer an die Kugel drin denken; auch heut’ nacht wachte ich, glaub’ ich, von dem Gedanken dran auf.

Aber heut’ war’s nicht möglich, Euch von ihr zu helfen; morgen in aller Früh’ geht der Vater hinunter zu einem jungen Arzt. Der denkt g’rad’ so wie wir, ist ganz sicher, und ihm wird’s auch eine Freude sein, Euch beistehen zu können und die Kugel aus dem Arm zu holen. Daß nicht alle ebenso denken! Wie viel schöner wär’s dann in der Welt!“

Sie brach ab und lachte. „Nein, wenn sie’s alle thäten, dann säßet Ihr nicht da droben und ich nicht hier –“

Er fiel ein: „Eben das wäre doch schöner –“

„Für Euch freilich, aber ich bin so froh, wie alles seit gestern abend gegangen ist; das wär’ ich dann nicht! Und wie viel giebt’s noch zu überlegen, auf welche Art wir Euch ohne Gefahr über die Grenze – nein, dazu haben wir noch lange Zeit, brauchen heut’ noch nicht dran zu denken.“

Die Sonne war weiter abwärts gestiegen. Sie stand jetzt ziemlich wagerecht dem westlichen Schallloch gegenüber, doch eine große Glocke fing ihren Strahlenwurf auf, der selbst nicht sichtbar ward. Gerlind hielt sich an dem Seil, und um zu dem oben Sitzenden verständlicher hinaufsprechen zu können, lehnte sie sich halb rückgebogenen Kopfes furchtlos ins Leere zurück. Da schlüpfte ein Goldstrahl an der Glocke vorbei, traf ihr Gesicht, und in dem Glanz leuchteten plötzlich ihre Augensterne märchenhaft auf. Alban hielt unwillkürlich den Atem an, er glaubte, auf ein paar wunderbare tiefblaue Edelsteine hinunterzublicken, solche Farbe und solchen Glanz von Augen hatte er noch niemals gesehen. Doch nur für die Dauer eines Gedankens bog sie sich derart zurück, sie rief. „Das blendet gewaltig“ und rückte hurtig den Kopf wieder in den Glockenschatten. Da saß sie, sich an dem Tau leicht hin und her schaukelnd, dem auf sie Niederschauenden drängten sich Vergleiche auf, an eine tropische Liane, an einen Kolibri mußte er denken. Doch das enthielt Widersinniges, nur von dem Saphirglanz Angeregtes, nichts Fremdes war an ihr, alles so deutsch und heimatlich wie es nur sein konnte. Eine durchaus nicht kleine, eher schlankhohe Mädchengestalt wiegte sich an dem Seil, nur war ihm nie solche Vereinigung von gesunder Kraft mit Zierlichkeit vor Augen gekommen. Vorher hatte er seinen Körper von dem langen unverrückten Sitzen allmählich steifer und schmerzhaft werden gefühlt, jetzt empfand er nichts mehr davon, hörte dem Stimmenklang unter seinen Füßen zu und antwortete darauf.

Die Sonne verschwand, und Gerlind konnte nun ungeblendet den Kopf zurücklegen, ihre Augen strahlten jetzt nicht mehr den Edelsteinglanz aus, doch ihr Blau berührte ihn geheimnisvoll, als ob es in seiner Tiefe das leuchtende Wunder verborgen halte. Zufällig traf ihre Fußspitze einmal auf die Glocke neben ihr, und ein singender Ton ging durch den Raum. So eigen klang’s, daß Alban sie bat, es zu wiederholen, und sie that’s öfter. Dann horchte sie, sich ruhig haltend, auf das leise Verklingen, und danach lachte sie. Eigentlich war kein Grund dazu, aber sie konnte nicht anders, wie ein spielendes Kind lachen muß, weil es vergnügt ist. Und aus dem gleichen Trieb schaukelte sie sich dann wieder am Seil.

Er war eine Respektsperson für sie, hoch über ihr stehend, und doch zugleich auch ihr Schützling, vor dem sie keine Scheu empfand, mit dem sie zutraulich sprach. Nun bat sie ihn, ihr zu erzählen, wie er nach dem Gefecht die Tage und Nächte im Schwarzwald zugebracht habe. Er willfahrte gern und ging noch einmal in der Erinnerung alle Wege über Berg und Thal bis zum gestrigen Abend. Sie wollte wissen, in welches Gasthaus drunten in der Stadt er geraten sei, das wußte er nicht, beschrieb’s jedoch von außen, so daß sie’s erkannte. Alban erzählte nun, er würde ungefährdet wieder hinausgelangt sein, wenn die Kellnerin nicht mit einem Licht gekommen wäre und es vor ihn hingestellt hätte. „Das erkannte ich gleich als übel und gebot ihr drum rasch, es wieder fortzutragen, aber sie that’s nicht.“ – „Das glaub’ ich wohl“, schaltete Gerlind ein. – Er fragte: „Was glaubst du?“ – „Daß sie’s nicht fortnahm, sie sah Euch doch natürlich gern an.“

Ein Fußtritt klang von unten herauf, das Mädchen brach ab. „Da kommt der Vater, dann ist alles in Ordnung und Ihr könnt herunter.

Behend schwang sie sich am Tau auf die Füße, Toralts grauer Kopf kam zum Vorschein. Mit der Leiter in den Händen auf den Balken tretend, begrüßte er den oben Verborgenen. „Sie haben wohl Langeweile gehabt; jetzt ist’s still drunten, die Maulwürfe haben das Wühlen aufgegeben und sich überzeugt, daß Sie in der Kirche und im Turm nicht sind.

Vorschreitend richtete der Alte im Winkel die Leiter auf. „Lassen Sie sich Zeit und halten sich mit der linken Hand gut fest! Die Glieder werden Ihnen steif sein.“

Zögernd verharrte Alban noch einige Augenblicke in seiner Stellung. Nicht aus Furcht vor einem Fehltreten – er konnte sich nicht entschließen, seinen Sitz zu verlassen. Jetzt, wo er fort sollte, überkam ihn das Bewußtsein, so schön sei es selbst auf der Schwarzwaldhöhe nicht gewesen, wo die unermeßliche Weite sich aufgethan und die weißen Alpenfirne ihm geheimnisvoll entgegengeblickt hatten.

Doch der Türmer wartete, und so mußte er wohl hinab. Schwindelfrei, an keine Gefahr denkend, stieg er nieder, ging weiter über den Balken. Vor ihm glitt Gerlind hurtig die Treppe hinunter, für das Abendessen zu sorgen. Fröhliche helle Töne einer Volksliedmelodie klangen ihr von den Lippen; man konnte meinen, eine Lerche sei im Innern des Turms aufgestiegen gewesen und tauche trillernd wieder zu ihrem Neste drunten zurück.


*     *     *


Als Alban am andern Morgen aus seiner Kammer ins anstoßende Gemach trat, befand sich nur das Mädchen darin, Toralt hatte sich schon in die Stadt hinunterbegeben. Gerlind teilte es ihm mit und sagte freudig: „Nun hab’ ich allein die Hut über Euch und muß gut aufpassen, wenn ein Wolf kommt, daß er Euch mir nicht wegholt.“

Lächelnd gab er zurück. „Ist es denn ein Lamm, das du hütest?“

Das war köstlich, sie versetzte ernsthaft: „Nein, einen hochgelehrten Herrn, vor dem ich mich schrecklich fürchte“, aber es zuckte ihr schelmisch dazu um die Lippen.

Er fragte: „Wie kommst du darauf, vom Hüten zu sprechen? Bist du einmal auf dem Lande gewesen und hast es gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nie aus der Stadt herausgekommen und werd’s auch nicht. Aber ich möcht’s gern einmal, im Wald und auf den Bergen muß es schön sein, in meinem Buch steht viel davon, auch von Hirten und Herden.

„Was für ein Buch ist das?“

Sie holte es herbei, ein Band Grimmscher Märchen war’s. „Ich weiß sie beinahe alle auswendig.“

Das führte ihn dazu, sich anzusehen, was ihr kleines Bücherbrett sonst noch enthalte. Etwas über ein Dutzend Bände und Bändchen stand dort, der Mehrzahl nach Schulbücher, auch ein französischer Leitfaden darunter, der Alban fragen ließ: „Du sprichst also wohl französisch?“ Zum erstenmal sah er ein bißchen Befangenheit über ihr Gesicht gehen und sie zögerte etwas mit der Antwort; es machte den Eindruck, als hätte sie gern Ja gesagt. Doch dann verneinte sie mit einer kurzen Kopfbewegung. „Ich hatte nur ein Jahr Unterricht darin.“

Halb ohne es zu wissen, nickte Alban. Er sah ihre Büchersammlung noch weiter durch, Erzählungen von Gustav Nieritz, Campes „Robinson“, ein Deutscher Hausschatz in Prosa und Vers, Gedichte von Chamisso, Eichendorff und Hölty, alte, stark gelesene Exemplare.

Nun fragte er wieder. „Welche von deinen Büchern hast du denn am liebsten?“

Sie zeigte auf die letzten drei, und er erwiderte lächelnd: „Und woher hast du sie bekommen?“

„Der Vater hat sie mir auf dem Jahrmarkt gekauft, wenn mein Geburtstag war.“

Jäh brach ein gewaltiges, die Stubenwände erschütterndes Dröhnen in ihr letztes Wort hinein, Glockenklanggewoge, doch nicht drunten her von der Uhr, sondern von oben herab. Ueberrascht fragte Alban: „Was bedeutet das?“

Das Mädchen antwortete: „Sie werden von unten an den Stricken geläutet.“

„Warum denn?“

„Weil’s Sonntagmorgen ist. Hat’s Euch erschreckt und ist’s

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_482.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)