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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Außer der Mehlsuppe genoß er nur einen kleinen Löffel gedünsteter Mohrrüben. Das Bratfleisch, das Bertha ihm sorgsam vorschnitt, erfüllte ihn mit plötzlichem Widerwillen.

„Ich kann nicht!“ rief er empört und schob klirrend den Teller zurück. „Laß mich doch endlich in Ruhe mit deinen albernen Mästversuchen! Ich trage höheres Verlangen als diese Fütterung, die nur den Grabwürmern zu gute kommt.“

Nun sprang er empor.

„Das war schon wieder die gottverfluchte Stimme der Unholdin!“ rief er entsetzt. „Noch aus der Haft heraus stört mir die Hexe den Frieden und sucht mich irre zu machen an Gott und mir selbst! Ruhig, ganz ruhig! Um keinen Preis darf sich ein ehrlicher Richter je zur Gehässigkeit und Rachsucht verleiten lassen! Aber ich wollte doch, Herr Balthasar Noß wäre zurück, um hier die Führung mir abzunehmen! Ich bin auch nur ein Mensch mit warmem Blut in den Adern!“

Bertha Xylander gab sich die größte Mühe, den angstvoll erregten Mann zu zerstreuen und abzulenken. Aber umsonst. Ihren freundlichen Rat, doch eine Weile zu schlafen, wies er höhnisch zurück.

„Schlaf’ du, wenn dir ein Dämon im Nacken sitzt! Eh’ diese Bosheit nicht aufhört, komm’ ich nicht über das heimliche Zucken und Krampfen hinaus! Das frißt mir schon wieder am Herzen wie eine Giftschlange. Ach, die verwünschte, heimtückische Teufelsbuhlin!“

Schlag halb Drei – kurz bevor seine Nichte das Haus verließ, um sich am Brunnen im Bürgergarten mit Doktor Ambrosius zu treffen, – schritt Adam Xylander fiebernd vor Unrast und Eifer durch das grauschwarze Thor des Gerichtsgebäudes. Obgleich noch Zeit war, ging er nicht erst, wie sonst, in den Eigenraum, sondern betrat ohne Verzug die Haupthalle, wo er in stummer Erwartung auf dem buckelbeschlagenen Präsidentenstuhl Platz nahm.

Fünf Minuten danach kam der Beisitzer Doktor Holzheuer; ihm folgten in kurzen Zwischenräumen die Schöffen und der Gerichtsschreiber. Die Folterknechte waren für diesmal beurlaubt.

Adam Xylander schlug nun dreimal auf die große kupferne Handglocke. Die Thüre der Inkulpatin öffnete sich. Hildegard Leuthold, von zwei Rutenknechten begleitet, trat im Glanz ihrer Jugendschöne, hoheitsvoll und kindlich zugleich, über die Schwelle. Ihr Anblick flößte selbst dem nahezu siebzigjährigen Wolfgang Holzheuer etwas wie aufquellende Wärme und Sympathie ein. Die Schöffen vollends und der Gerichtsschreiber hatten das dunkle Gefühl, als müßten sie aufspringen, um sich in Ritterlichkeit und Demut vor dieser lieblichen Königin ihres Geschlechts zu verneigen. Nur Adam Xylander warf ihr einen tief mißtrauischen und feindseligen Blick zu.

Hildegard Leuthold war jetzt vollständig ruhig. Der erste Schreck war gewichen. Ihr Vertrauen auf das Ansehen und den Einfluß ihres vergötterten Vaters hatte sich nach und nach wieder so sehr gefestigt, daß sie nun kaum noch zweifelte: ehe der Abend sank, würde sie ihre Freiheit zurückerlangt haben. Wie ihr Vater dies Wunder vollbringen sollte, davon hatte sie allerdings keine Vorstellung.

„Ihr seid Hildegard Leuthold, die Tochter des weiland kursächsischen Magisters Franz Engelbert Leuthold?“ begann der Präses in kaltem Geschäftston.

„Die bin ich! Und als die Tochter dieses allgemein geachteten Mannes möchte ich fragen, was Euch veranlaßt, mich in so beschimpfender Art aufgreifen und hierher vor Gericht schleppen zu lassen? Denn ich weiß von den Häschern, daß Ihr, Herr Doktor Xylander, in eigner Person meine Verhaftung befohlen habt.“

„So? Ihr kennt mich?“ gab Xylander zur Antwort. Ein unheimliches Lächeln zuckte um seinen bartlosen Mund. „Das stimmt ja vollständig mit dem überein, was ich selber seit vielen Wochen an mir gespürt habe und was auch sonst Euch unzweideutig zur Last gelegt wird. Ihr kennt mich, Hildegard Leuthold, und habt einen lästerlichen, abscheulichen Haß auf’ mich geworfen, dieweil ich der unversöhnliche Todfeind aller Zauberer und Hexen bin. Doch das beiläufig! Meine Persönlichkeit soll hier ganz und gar außer Betracht bleiben. Dem ehrlichen, schwurtreuen Richter gilt es allein die Sache – und was Ihr in Eurer Tücke mir selber zugefügt habt, ist überhaupt nur der geringere Teil Eures Verbrechens. Was ich hier feststellen will, ist die gewichtige Thatsache, daß auch Ihr mir bekannt seid. Ja, ich erkenne Euch wieder, Hildegard Leuthold! Vor Gott und meinem Gewissen. Ihr seid die boshafte Verfolgerin, die mich fast schon zu Grunde gerichtet hat!“

Er setzte dem Tribunal kurz auseinander, um was es sich handelte. Dann strich er sich mit gespreizten Fingern über das mißfarbige Haar und nickte tief überzeugt vor sich hin. Der halb schon beginnende Irrsinn, der unheimlich hinter den kleinen rastlosen Augen funkelte, hatte ihm eingeredet, die weiche, volltönige Stimme Hildegards sei die nämliche, die ihm bei seinen krankhaften Sinnestäuschungen so gespenstisch im Ohre klang. Das allein schon genügte. Ihm stand es nun unumstößlich fest, daß Hildegard Leuthold all der widersinnigen Unthaten schuldig war, deren sie von dem ungenannten Angeber und der gefolterten Wedekindin bezichtigt wurde.

„Ich verstehe Euch nicht,“ stammelte Hildegard. „Sagt mir, ich bitt’ Euch, in klaren bestimmten Worten, wer mich hier anschuldigt, und was ich sonst noch gethan haben soll! Das mit der Stimme, die Ihr gehört haben wollt, mag wohl auf Siechtum Eures Gehirns beruhen. Am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke bin ich im Leben noch nicht gewesen. Stellt mir doch den Verleumder gleich gegenüber! Ich will ihn der Lüge zeihen. Ich will sehen, ob er den Mut hat, mir ins Gesicht seine Verruchtheiten zu wiederholen.“

„Wenn ich Euch raten soll, Inkulpatin, so mäßigt Ihr Euch. Der Beschuldiger ist das erlauchte Tribunal selbst. Aus welcher Quelle es schöpft, danach zu fragen, steht Euch kein Recht zu.

„Kein Recht? Aber ich muß doch wissen …“

„Nichts müßt Ihr wissen, als was ich Euch mitzuteilen für gut finde. Hört jetzt, welcher sonstigen Uebelthaten Ihr auf Grund glaubhafter Zeugnisse dringend verdächtig seid. Zuvor aber ermahne ich Euch, mich durch keinerlei Gegenrede oder sonstige Ungebühr unterbrechen zu wollen! Wenn ich zu Ende bin, dann – aber nicht früher – habt Ihr das Wort! Inzwischen bedenkt Euch, ob Ihr nicht Eure Sache durch ein offenes, reumütiges Geständnis vereinfachen und für Euch hoffnungsvoller gestalten wollt!“

Er las nun mit etlichen Kürzungen die Denunziation vor, sowie das Erforderliche aus dem „Geständnis“ der Wedekind.

Hildegard Leuthold hörte ihm zu wie versteinert. Die Art und Weise des Blutrichters hatte vorhin schon ihre kaum erst erstarkte Zuversicht wieder zum Wanken gebracht. Jetzt vollends, da er mit so unheimlich starrem Ernst diese scheußlichen und dabei doch so lächerlich unsinnigen Dinge gegen sie vorbrachte, stockte ihr fast der Atem.

„Inkulpatin,“ frug Adam Xylander, indem er das Protokoll zuklappte, „bekennt Ihr Euch schuldig? Oder wollt Ihr die Schwere Eures Verbrechens durch Ableugnen erhöhen?“

Hildegard schwieg einen Augenblick. Es schien furchtbar in ihr zu arbeiten.

„Das, das hätte die Wedekind ausgesagt?“ fuhr sie dann plötzlich heraus.

„Hier steht’s in den Akten.“

„So ist sie verrückt – oder Ihr habt diese Unwahrheit in sie hineingefoltert!“

Adam Xylander schmunzelte wie ein Mann, der sich so recht im Gefühl seiner geistigen Ueberlegenheit sonnt. Er strich mit den Fingerspitzen das schmale, bartlose Kinn und sagte von oben herab:

„Weshalb beschränkt Ihr Euch nur auf die Wedekind? Wenn Ihr denn leugnen wollt, warum übergeht Ihr in Eurem Protest die vernichtenden Anklagepunkte, die sich hier aus dem Briefe ergeben?“

„Warum? Weil ich zur Not noch begreifen kann, daß irgend ein boshafter Schurke hinterrücks mich verunglimpft! Aber wie es die fromme Brigitta über das Herz bringen kann, sie, die gute, gläubige Christin, der ich doch nie was zu Leide gethan … O, es ist jammervoll, wie tief Eure Grausamkeit auch die edelsten Menschen erniedrigt!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_502.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)