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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Günther war noch einen Augenblick auf seinem Schemel stehen geblieben. Er nickte seinen Sängern jetzt lächelnd zu, mit der ihm eigenen, kindlichen Bewegung strich er sich mit der ausgebreiteten Hand über den großen, schwarzen Bart und dann über den Magen hinunter, als wenn ihm etwas sehr gut geschmeckt hätte. Ein Zeichen seiner Zufriedenheit. Fein abgeschlossen! hieß das, famos, glockenrein, schön habt ihr gesungen, bravo!

Als nun die Gemeinde mit dem Choral einsetzte, stieg er sacht von seinem Thrönchen herab und setzte sich in die Ecke der vordersten Bank, neben Hanna Wasenius, die ihm seinen Platz schon aufgehoben hatte. Er nickte ihr, seinem Liebling, seiner Prima-Sopranistin, noch einmal besonders freundlich zu.

„Ist Becker in der Kirche?“ fragte Hanna leise.

„Nein, leider nicht. Verreist.“

„Das ist aber schade. Er wäre zufrieden gewesen, meinen Sie nicht?“

„Na ob!“ gab er fast laut zurück. „Bin übrigens neugierig,“ fuhr er gedämpfter fort, „was Erdmann zu der neuen Sache sagen wird.“

„Ich auch. Ich hab’ ihm geschrieben, er möchte nachher mit uns kommen, Abendbrot essen. Sie kommen doch auch wieder mit hinaus?“

„Selbstredend! Mein Sonnabend!“ Er strahlte sie aus seinen braunen, etwas weitläufig stehenden Augen an.

Die Unterhaltung war nur ganz leise, vom Gemeindegesang verdeckt, geführt worden, als aber nun der Kirchendiener die Seitenempore entlang auf die Sänger zugegangen kam, griff Günther verlegen, mit der Gebärde des ertappten Schuljungen, nach dem Gesangbuch.

Hanna unterdrückte ein Lächeln und schaute dann gleichmütig geradeaus.

Herr Müller, ohne Klingelbeutel, also außeramtlich, trat vor sie hin und murmelte mit so viel Häßlichkeit in Ton und Haltung, als sein geistlicher Stand dem trefflichen gegenüber zuließ: „Herr Paster lassen sagen, Herr Paster würden die Einladung Folge leisten, wenn die Litterurjie alle wäre, dann möchte Fräulein Herrn Paster an der Sankristeithür erwarten. Herr Paster kämen dann gleich mit.“

„Sehr schön, ich danke Ihnen.“

„Rettenbacher ist übrigens wieder fein bei Stimme,“ setzte Günther die leise Unterhaltung fort, nachdem Herr Müller würdig sacht davongeschlichen war.

Hanna nickte nur. Sie seufzte dann ein wenig. Der Gemeindegesang bedrückte sie stets, besonders, wenn er auf einen Chorsatz folgte, den sie eben mit tiefbewegtem Herzen gesungen hatte. Ihr Gefühl für Frömmigkeit war von feiner, sehr zarter, scheuer Natur. Es bedurfte nur eines einzigen, nüchternen Rufes, um es zu verletzen. Mit leiser Verwunderung betrachtete sie ihre Nachbarin, Helene Imhoff, die die ganze Zeit fromm, wie ein Nönnchen, mitgesungen hatte.

Wenn ich so glücklich wäre, zu fühlen wie die, dachte Hanna, so säng’ ich ja auch mit. Aber mich nur so anstellen, das kann ich nicht; Rettenbacher ist auch still.

„Ich hab’ den ,Paulus’ und den ,Elias’ mit für heute abend,“ murmelte Günther wieder neben ihr.

Sie lächelte ihm freundlich zu.

Die weiche, matte Stimme des Predigers, die jetzt den Spruch verlas und der Günther nun mit ernsthaftester Andacht lauschte, ging eindruckslos an ihrem Ohr vorüber. Sie gehörte zu den Leuten, die nur mit Anstrengung und um den Preis heftiger Kopfschmerzen imstande sind, dem Vortrag eines Einzelnen im großen Raume mitten unter vielen Menschen zuzuhören. Gedankenbilder zogen in der wachen Seele ein und aus; wer sie so unbeweglich sitzen sah, mußte sie für die aufmerksamste Zuhörerin halten. Es wäre ihr auch um Erdmanns willen leid gewesen wenn jemand etwas anderes gedacht hätte.

Und heute war sie zudem unaufmerksamer als sonst. Nicht, daß sie gar so viel zu überlegen gehabt hätte. Sie versank im Gegenteil zuerst in eine sanfte, fast gedankenlose Träumerei, zu der die zurückkehrende, nun nicht mehr gestörte Erinnerung an die vorhin gesungene Motette die begleitende Musik bildete, oder vielmehr jetzt wohl hauptsächlich der volle, goldene Ton von Rettenbachers Stimme, der dem Baß die Farbe gab, wie die ihre dem Sopran. Die Vorfreude für heute abend lief ihr dann wie ein warmer Strom über das Herz. Und daß die Mutter in diesen Tagen, und besonders heute, wieder so viel wohler war! Vorigen Sonnabend hätte sie den Pastor nicht zu sich bitten können. Ein Glück nur, daß Günther wenigstens noch mit heraufgekommen war, um „Mamachen“ Guten Abend zu sagen, wenn er auch wegen ihres schlechte Befindens nicht hatte bleiben wollen. Er hatte dann doch gleich zum Doktor stürzen können, während sie mit Rettenbacher zusammen die arme Ohnmächtige aufs Bett trug. Der dumme Brief von dem Bankier war schuld gewesen. Aber wenn die argen Nervenschmerzen sie nicht vorher recht matt gemacht hätten, wäre sie auch gewiß nicht so erschrocken. Es war ja wohl nicht so arg. Es konnte ja nicht sein. Es war hoffentlich nur ein Schreckschuß. Sehr hoffentlich! Denn – was werden mochte, wenn – –

Günther, der sich neben ihr aus der Bank erhob und an seinen Dirigentenplatz zurückkehrte, zerriß den schmerzhaft festgespannten Gedankenfaden. Hanna besann sich; sie lächelte dann vor sich hin, beinahe verlegen. Wenn das arme, gute Pfarrerlein da unten wüßte, wie wenig sie immer von dem hörte, was er vortrug! Gut, daß er niemals nachher von seinen Predigten sprach.

„Also jetzt – Melchior Franck: ,Wer mich lieber ….’

Die alte, dreihundertjährige Motette breitete ihren unvergänglichen Zauber aus über kalte und warme Herzen, über Trübsal und Frohsinn, der Wiederschein ihrer Lieblichkeit leuchtete allenthalben gleich.

Hanna sang mit tiefster Hingebung. All ihre Andacht war wieder da. Helenens Madonnengesichtchen neben ihr schaute nicht verklärter. Ein jedes betet eben auf seine Weise. Und wahrscheinlich finden alle Gebete, die aus Herzensgrund erblüht sind, ihre Heimstätte – welche Weg sie auch kommen mögen.

2.

Der Gottesdienst war zu Ende.

„Nun, wie ist das also mit Erdmann?“ fragte Arnold Rettenbacher, auf Hanna zutretend, die sich noch mit Helene Imhoff unterhielt. Die ehemaligen Schulkameradinnen, vom Leben derweil auseinandergeweht, hatten sich zu gegenseitiger froher Ueberraschung hier im Kirchenchor wiedergefunden. Helene, schon seit einem halben Jahr verheiratet, war der Freundin freilich um ein bedeutsames Lebenskapitel voraus.

„Gleich – einen Augenblick“, antwortete Hanna auf Rettenbachers Frage, ihn dabei flüchtig anlächelnd. Und zu Helene zurück: „Sag’ doch, Kleine, könntest du nicht ganz gut einmal am Samstagabend mit mir kommen? Soviel ich weiß, hat doch dein Herr und Gebieter um diese Zeit eine Art von Sitzung und du bist frei?“

„Eine Sitzung hat er schon, aber die ist um neun zu Ende und dann kommt er mit einem mörderischen Hunger nach Hause. Er würde ja mir zu Gefallen auch einmal auswärts essen, aber ich mag ihm das nicht anthun. Gerade, weil er sich ganz sicher sehr liebenswürdig darein finden würde, verstehst du?“

„Und mit mir kommen und ihn zu uns nachkommen lassen, mitsamt seinem Hunger – ginge das nicht? Wir kriegen ihn am Ende auch noch satt“. „Das müßten wir einmal überlegen. Es wäre sehr nett. Du darfst nur nicht vergessen, daß der Arme so unmusikalisch ist wie ein Thürpfosten. Um so rührender von ihm, daß er mich so vollkommen frei gewähren läßt, und um so mehr Verpflichtung für mich, ihn am Samstagabend besonders gut zu behandeln. Bei euch würden wir doch musizieren, nicht? Nun, siehst du, das wäre dann eigentlich ein neues Opfer für ihn –“

„Ich sehe schon“ unterbrach Hanna sie lächelnd, „damit ist es nichts. Du hast auch ganz recht. So grüß’ ihn einstweilen von mir. Wir verabreden nächstens einen Abend, an dem es unmusikalisch und doch gemütlich zugehen soll.“

Helene verabschiedete sich nun eilig und huschte flink die gewundene Steintreppe der Empore hinunter. Die andern Chormitglieder hatten sich schon entfernt.

Der Organist schloß seine etwas über das Gemeindelied hinaus gedehnte Ausgangsmusik mit einem machtvollen Accord und stieg dann von seiner Bank, um Günther, der noch in seinen Noten kramte, Guten Abend zu sagen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_518.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2017)