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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

und Rettenbacher bat. „Helfen Sie mir, die Mutter ans Fenster tragen, ja? Bertha ist noch nicht zurück. Und den Brief auf dem Tische mit dem Blicke streifend. „Den dürfen wir lesen, nicht wahr? Das ist hübsch, da freu ich mich. Sie wollen arbeiten gehen? Nach Tische kann ich wohl schon wieder etwas zum Abschreiben bekommen? Schon. Also bis nachher.“

Sie nickte dem Hinausgehenden freundlich nach. Als sie sich zurückwandte, trafen ihre Augen auf einen so befremdlich spähenden Sorgenblick der Mutter, daß sie leicht erschrak.

„Ist dir etwas, Mutterchen?“

„Nein,“ sagte die verwirrt und sich sammelnd. Die erste Entdeckung hatte die Furcht vor der zweiten gezeitigt. Sie traute sich nun auch die andere, die tiefere Blindheit zu. Aber ein tapferes, ehrenfestes Kind kann mitunter auch das wachsamste Mutterauge betrügen. Mit einem Seufzer der Erleichterung nickte Frau Wasenius ihrer lächelnden Tochter zu, als diese sich ihr gegenüber setzte und den vielblättrigen Rettenbacherschen Brief aus seiner Hülle zog.

„Lieber Sohn!

Nach Erledigung meiner Amtsgeschäfte ergreife ich die Feder, um Dir auf Deinen Brief vom 2. dieses Monats zu antworten. Es wäre schon etwas eher geschehen, aber ich konnte nicht schreiben, weil mich der Rheumatismus geplagt hat und mir in die Hüfte fuhr, wenn ich mich unvorsichtig wendete. Dein Bruder Ernst hat sonach müssen die Glocke läuten und mit dem Rohrstock bin ich derowegen auch sparsam umgegangen. Die Schulkinder haben Maul und Nase aufgerissen ob meiner Sanftmut, aber gar zu lange haben sie sich nicht brauchen wundern, dann war ich wieder gesund. Mein lieber Sohn, ich habe Deine Sendung erhalten und sage Dir dafür meinen väterlichen Dank. Es traf wieder recht gelegen. Unser Stadtsohn ist uns stets ein erheblicher Gedanke und der Herr Graf, der sich neulich im Vorbeifahren wieder nach Dir erkundigt hat, sagte mit herzlichem Wohlwollen, ich sollte Dich grüßen und es reute ihn nicht, das mit dem Stipendium, Du schienest das Studiengeld gut angewendet zu haben und solltest nur so weiter machen. In der That, ich darf wohl glauben, mein Sohn, daß seine Güte von damals bei Dir auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ich habe denn auch Gelegenheit genommen, dem Herrn Grafen zu erzählen, daß Du ein guter Sohn bist und Deine Eltern und Geschwister bis dato noch nicht vergessen hast. Möge es stets so bleiben. Der Herr Graf hat ein neues Arbeiterhaus lassen bauen, einen großen Kasten, und es ist eine ganze Kolonie von neuen Leuten eingerückt. Kinder sind auch etzliche Mandeln dabei, so steigt auch der Schulbesuch, und wenn es glückt mit der Fabrik, so muß der Herr Graf mir lassen auch ein neues Schulhaus bauen, denn die blökende Herde wächst mir schon bald zu den Fenstern heraus. Deine Mutter will Dir auch noch eine kleine Epistel senden, so mag sie vom Haus und von den Kindern erzählen. Daß sie alle gesund sind, kann ich bestätigen, nur die Grete könnte schöner aussehen, aber dafür kann sie nichts und es wird sich ja bald geben. Dein Schwager freut sich auch schon. So sei denn gegrüßt und gesegnet

  von Deinem allzeit getreuen Vater Rettenbacher.“

 „Mein lieber Junge!
Ein paar Reihen will ich noch hinschreiben, damit daß ich Dir kann danken für das Geld, mein Arnold, und ich bete alle Abend und ich danke dem lieben Gott für mein liebes Kind, für meinen Arnold. Er wird es Dir einstmals vergelten, ich kann es nicht. Es langte dem Hans zu einer neuen Hose zum Geburtstag und er geht stolz herum und Evchen sagt, sie freut sich auch schon, denn ihrer ist jetzt der nächste und sie meint, eine Puppe, aber ich meine ein Paar Schuhe, denn sie sind ihr zu klein und Vorschuhen geht auch nicht mehr. Es geht uns allen gut. Vater war erkältet, aber es ist auch schon wieder gut. Die Wintersaat steht schön und die Obstbäume möchten schon bald blühen, wenn nur nachher kein Frost mehr kommt, die gestrengen Herren. Die Kinder lassen alle grüßen, der Hans sollte Dir auch schreiben, aber er ist mir ausgerissen. Grete geht es auch so leidlich, aber sie möchte, es wäre schon so weit, noch eine sechs Wochen, dann wird es wohl kommen. So will ich denn schließen und ich segne Dich von Herzen, mein treues Kind, ich möchte Dich so gerne wiedersehen, aber die teure Fahrt, das ist das schlimme. Es umarmt Dich in treuer Liebe, mein Arnold,

Deine Mutter.“ 

 „Liber Bruder!
Ich danke Dir für Dein Geschenk sie paßt mir, Mutter hat mich doch erreicht, ich war auf den Apfelbaum und beim Wurstessen habe ich mir gebrochen aber nicht ser.

Dein liber Hans.“ 

Hanna lachte laut auf. „Wenn ich doch diesen Hans einmal zu sehen bekommen könnte. Das ist sein Liebling. Er muß jetzt sieben Jahre alt geworden sein. Das war jedenfalls beim Schweineschlachten, wo er sich mit dem Wurstessen übernommen hat.“

Sie hob dann die Blätter und schüttelte sie ein wenig. Man sieht hieraus wieder deutlich, wo alles bleibt, was er sich abdarbt. Und wie lange wird das noch dauern! Von wem ist denn noch dieses Briefchen? – Deine Regine.’ – Aha, das Lockenköpfchen, die kleine ‚Schönheit‘. Sie schlug das Blatt um.

„Lieber Herzensbruder! – –“

Draußen ging die Flurglocke.

Die Magd steckte den Kopf zur Thüre herein. „Herr Thomas wünscht Frau Doktor zu sprechen.

(Fortsetzung folgt.)     




Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Die Roentgen-Strahlen in Industrie und Technik.
Von W. Berdrow.

( gemeinfrei ab 2025)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 539. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_539.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2023)