Seite:Die Gartenlaube (1897) 544.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Hexe von Glaustädt.
Roman von Ernst Eckstein.

(12. Fortsetzung.)

20.

Am folgenden Tage bei schon tief stehender Sonne klomm Doktor Ambrosius schweren langsamen Schrittes die Holzstiege nach seiner Wohnung hinan. Er kam vom Siechbett des todkranken Magisters Franz Engelbert Leuthold, der in den wütendsten Phantasien nach seiner herzlieben Hildegard schrie und zwischendurch wehleidig klagte und winselte oder im Fieberwahn längst zurückliegende Scenen seiner Wittenberger Vergangenheit durchlebte, unruhige Auftritte, Verhandlungen mit feindseligen Amtsbrüdern und Vorgesetzten, ein wahres Chaos nie zu schlichtender sinnloser Verwicklungen.

Doktor Ambrosius war jetzt mit seiner Kraft vollständig zu Ende.

Die lang ausgedehnten Besuche bei dem unglücklichen Vater hatten ihn ebenso aufgerieben wie das fruchtlose Nachsinnen über die Rettung der Tochter. Tag und Nacht hatte er unter Vernachlässigung aller sonstigen Pflichten unaufhörlich gegrübelt und Pläne entworfen, ohne sie doch bei näherem Zusehen für ausführbar zu halten. Auch eine dreistündige Unterredung mit dem Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, der so reich an Ideen war, hatte zu keinem Ergebnis geführt. Ja, wenn sich das alles um etliche Monate später ereignet hätte, dann wär’ es wohl anders gewesen! Ehe der November ins Land zog, war der vielfach erörterte Handstreich wider den Landgrafen Otto möglicherweise geglückt, Balthasar Noß mit seinen furchtbaren Helfershelfern hinweggefegt und Glaustädt als reichsunmittelbares Gemeinwesen anerkannt. Es war nicht zum erstenmal, daß so der Kaiser eine vollendete Thatsache guthieß, wenn sie ihm nur durch beredte Wortführer klar und in der rechten Beleuchtung dargestellt wurde. Die Kerker, die mit den Opfern des Hexenirrwahns gefüllt waren, hätten sich bei einer solchen Wendung ohne Verzug aufgethan. So aber, wie die Dinge jetzt lagen, schien jeder Versuch eines Kampfes mit Balthasar Noß aussichtslos. Die Sache der großen Verschwörung war noch nicht reif, und mit der bloßen Faust konnte selbst der Mut der Verzweiflung die städtischen Wachtposten und die Mauern des Stockhauses nicht über den Haufen werfen.

Völlig niedergedrückt von all diesen Seelenqualen, betrat Doktor Ambrosius gegen halb Acht das zweifenstrige Mittelzimmer. Er setzte sich vor den Eßtisch, warf sich breit mit dem ganzen Oberkörper darüber und brach in lautes, leidenschaftliches Schluchzen aus.

Da fühlte er auf seiner zuckenden Schulter eine sanfte Hand. Emporschauend, blickte er in das blasse Gesicht Elmas.

„Um Gott,“ stammelte sie bewegt, „liebster Herr, was fehlt Euch? Verzeiht nur, daß ich hereinkam! Aber Ihr hörtet nicht. Ihr weint! Jesus, mein Heiland, das ist so herzzerreißend!“

„Du gutes Kind! Selbst leidest du Kummer und Elend genug – und findest noch eine so liebe Art, mich zu trösten!“

„Ach, ich!“ versetzte Elma, indes ihr die Augen feucht wurden. „Wenn mir’s gegeben wäre, Euch wirklichen Trost zu bringen – das wäre wohl für mich selber der größte Trost. Aber was vermag ich? Ich lebe nur so dahin und komme mir vor wie ein sündhaftes Geschöpf, weil ich noch atmen und essen und trinken kann, während doch meine geliebte Mutter …“

Nun hub sie an, stürmisch zu wehklagen und sich rückhaltlos ihrem Jammer zu überlassen. Ihr armes Mütterchen lag ja beinahe im Sterben, so grausam hatten die Blutrichter ihr zugesetzt. Elma wußte es von dem Stockhausarzte, dem die Opfer der Folter überwiesen wurden, wenn sie nicht mehr vernehmungsfähig waren. Ihr armes Mütterchen befand sich jetzt in der Siechenabteilung. Rudloff, der Altgeselle, hatte den Arzt nochmals gefragt, ohne etliche Wochen sorgsamer Behandlung würde sie das nächste Verhör nicht überstehen.

Doktor Ambrosius erhob sich. Beim Anblick dieser hilflosen Verzweiflung vergaß er für kurze Minuten sein eigenes Elend. Er zog das Kind an sich wie ein treusorgender Vater, der sein Töchterchen gegen die Rauheiten des Unwetters in Schutz nehmen will. Ihr Kopf lag wie versunken an seiner Brust, während ein wildes Erschauern den zarten Körper krampfhaft durchschüttelte.

„Ach,“ sagte sie dann, durch ihre Thränen emporlächelnd, „wie thut das wohl, bei einem treuen Freund sich ausweinen zu dürfen! Mein Freund – – das seid Ihr doch? Beim Vater zuck’ ich mit keiner Wimper. Da getrau’ ich mich nicht …“

„Ist denn der Vater so unwirsch?“

„Das nicht. Aber ich meine, wenn er mich trauern sieht, das erhöht nur seine eigene Qual! Und er leidet entsetzlich. Bei Tag freilich – da geht er mitunter einher, als ob gar nichts geschehen wäre. Er arbeitet und spricht mit den Leuten und ordnet an und befiehlt. Obschon ich ja doch merke, daß ihn das Weh keinen Augenblick losläßt. Aber bei Nacht! Das ist nicht zu beschreiben! Ich höre oft stundenlang, wie er sich schlaflos in den Kissen herumwälzt. Und dann betet er laut, und die Zähne schlagen ihm hart wider einander. Oder er stößt Verwünschungen aus und gräßliche Drohungen.

„Drohungen?“

„Ja. Gegen die Blutrichter. Euch kann ich’s ja sagen … Ihr verratet uns nicht.“

Doktor Ambrosius nahm sich vor, den Zunftobermeister, der seit einiger Zeit mit in der großen Verschwörung war, ernstlich zu warnen und ihm schon jetzt durch Elma einen wohlmeinenden Wink zu geben. Die Spione der Blutrichter zählten nach Hunderten. Selbst in den eigenen vier Pfählen und zu nachtschlafender Zeit war niemand recht davor sicher, daß nicht ein unvorsichtiges Wort aufgefangen und heimtückisch hinterbracht wurde.

„Dein armer Vater sollte doch seinen gerechten Zorn meistern. Drohungen, die du sogar im Nebenzimmer verstehst, sind hier lebensgefährlich. Wenn ich du wäre, sagt’ ich ihm das.

Elma brach von neuem in Thränen aus.

„Ich will’s ihm vorhalten,“ meinte sie schluchzend. „Ja, Ihr habt recht. Man kann ja nicht wissen. Gleich über ihm schlafen die drei Gesellen. Gott, ach Gott, wenn ich auch noch den Vater verlöre! Das einzige, was mir auf Gottes Welt bleibt!“

Doktor Ambrosius küßte sie auf die Stirn. „Sei ruhig, mein Kind!“ sagte er liebevoll. „Noch ist ja wohl nichts versehen! Und jetzt weine nicht mehr! Geh! Mach’ wieder ein frohes Gesicht! Freilich, uns beide nimmt das Schicksal hart genug in die Schule … Da verlernt man das Lachen.“

„Uns beide! Ach wohl! Das war’s ja! Ich ging draußen vorbei und wollt’ in die Bodenkammer. Da hört’ ich Euch stöhnen. Und wie ich nun komme, sprech’ ich von meinem eigenen Leid. Und frag’ Euch gar nicht, was Euch so schwer bedrückt, und ob es in meiner Kraft steht, Euch beizuspringen. Aber das ist ja gewiß schon ungebührlich, daß ich nur so was denke. Wie soll ich unkluges, armseliges Ding Euch helfen können?“

Er setzte sich wieder und zog sie freundlich zu sich heran.

„Nein Elma,“ sprach er mit trüber Stimme und legte den Arm liebreich um ihre Schulter, „helfen kannst du mir nicht! Aber es labt und erquickt mich doch, daß du dich so getreulich um deinen Freund härmst! Und obgleich du noch ein so kleines Mädchen bist, sollst du jetzt doch erfahren, was mich zu Grunde richtet. Du bist reif über dein Alter. Gewiß und wahrhaftig, Elma, ich habe hier niemand, dem ich so ganz ohne Rückhalt mein Herz ausschütten möchte wie dir.“

„O, das ist gut von Euch! Ja, Ihr habt recht! Wenn man so furchtbar gelitten hat, ist das genau, als ob man ein paar Jahre länger gelebt hätte. Ich bin jetzt gar nicht mehr die lustige, übermütige Elma von einst. Ich denke so viel an den Tod … Manchmal erschrecke ich über mich selbst. Also erzählt mir nur alles!“

„Kind, zu erzählen giebt es da blutwenig. Es handelt sich nur um ein einziges schwerwiegendes Wort. Und das will ich dir anvertrauen. Du bewahrst es in deinem Herzen als dein tiefstes Geheimnis. Es wäre nicht gut, wenn es die Welt jetzt erführe. Dir aber sag’ ich’s mit Freuden.“

Sie schaute ihm still und erwartungsvoll in das Antlitz. Er beugte sich nahe zu ihrer aufglühenden Wange.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_544.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)