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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Du hast schon gehört, Elma, daß über den wackeren Magister Engelbert Leuthold das nämliche Unglück hereingebrochen ist wie über euch. Man hat ihm die Tochter, das liebste, herrlichste Mädchen von ganz Glaustädt, plötzlich ins Stockhaus geschleppt – unter der gleichen Anklage wie deine gute Mutter …“

„Ja, das hab’ ich gehört,“ flüsterte Elma.

„Nun, siehst du, mein Kind, diese Hildegard, dieses himmlisch süße Geschöpf, steht mir so nahe wie niemand sonst … Sie hat sich mir anverlobt. Sie sollte mein Weib werden. Verstehst du nun?“

Elma blieb eine Weile hindurch regungslos. Nur ihre Wimpern tropften wieder von schwer quellenden Thränen. Aber sie schluchzte nicht. Als sie dann wieder aufblickte, lag über ihrem bleichen Gesicht ein merkwürdiger, fremdartiger Glanz.

„Eure Braut also,“ sagte sie traumverloren. „Wie muß sie glückselig sein in all ihrer Not, da Ihr sie doch so von Herzen lieb habt! Ihr aber … Freilich, das ist ein Elend, nicht auszudenken!“ Sie faltete ihre schmalen Hände.

„Herr Doktor Ambrosius, wenn Euch das trösten kann, ich will für sie beten. Mit aller Gewalt will ich’s dem lieben Gott abringen. Nicht wahr, es steht doch geschrieben. Unser Gebet vermag viel, wenn es standhaft ist …? Es gilt ja doch Euer ganzes zukünftiges Glück! Und seht Ihr, für Euch könnt’ ich gleich alles thun, alles! Ja, schaut mich nur an! Es ist so! Ihr seid so gütig gewesen – gleich von der ersten Minute an! Und Ihr habt dem Vater so liebevoll zugesprochen in seiner Trostlosigkeit! Ob Ihr’s nun glaubt oder nicht. Um Euretwillen könnt’ ich zu den Blutrichtern sagen: ‚Hier, nehmt mich anstatt der Hildegard Leuthold! Die ist nicht schuldbefleckter als ich und noch dazu eine junge glückliche Braut!‘ Nicht wahr, Doktor Ambrosius, wenn ich das thäte, und die Richter nähmen das an, und die Hildegard Leuthold würde dann Eure Frau, dann hättet ihr beide mich lieb auch über das Grab hinaus und hieltet mich Aermste in freundlichem Andenken?“

„Du bist eine treue Seele! Ja, ich glaube dir, Elma, daß du einer so rührenden Selbstlosigkeit fähig wärest. Du hast das Herz dazu und den Mut … Aber ich sitze hier und verträume die kostbare Zeit! Wahrhaftig, das Herzeleid ohne Hoffnung macht auch den Tapfersten lässig. Wenn ich nur wüßte, wenn ich nur wüßte …! Irgend etwas muß doch geschehn, und wär’ es selbst die krasseste Thorheit!“

Nun schob er die Kleine sanft von sich weg. Es war ihm ein Einfall gekommen. Im Rechtsstaat hätte ihm dieser Gedanke zuerst auftauchen müssen. Unter dem Druck des Blutrichtertums hatte er ihn als vollständig aussichtslos noch nicht in Betracht gezogen. Auch jetzt drängte sich ihm die Sache nur auf als ein Mittel, um möglicherweise eine Verschleppung herbeizuführen. Dieses letzte Mittel war die Beschreitung des Rechtsweges. Und wenn er auf diesem Wege auch nur halb so viel Zeit gewann wie in dem Fall der Brigitta Wedekind durch die leider jetzt ausgeschlossene Beeinflussung des Doktor Xylander – es mußte versucht werden. Vielleicht gab die Gesetzgebung doch irgend etwas an die Hand, was man bei geschickter Verwertung als Hemmschuh benutzen konnte. Hierzu jedoch bedurfte man eines Rechtskundigen. Sofort dachte er an den kleinen Notar Rolf Weigel. Die Gewandtheit und Schlagfertigkeit des Mannes war stadtbekannt …

Doktor Ambrosius erhob sich. „Leb wohl, Kind! Ich muß noch hinaus, ehe es Nacht wird.“

„Wollt Ihr nicht erst einen Imbiß nehmen?“ fragte ihn Elma fürsorglich. „Es geht schon auf Acht.“

„Nein, ich danke! Höchstens vielleicht einen Tropfen Milch. Wenn du mir den reichen könntest … Oder halt! Gieb mir einen Trunk Wasser! Die Kehle verdorrt mir, aber ich mag nichts, was Nahrung heißt.“

„Da thut Ihr unrecht. Vater genießt auch so entsetzlich wenig. Und er wird hohläugig.“

„Geh nur!“

Während sie ihm drunten am Hofbrunnen den irdenen Krug füllte, trat er ins Nebengemach und nahm einen dreischneidigen Dolch von der Wand, der da in braunlederner Scheide über dem Bett hing. Die Waffe stammte aus seiner Studentenzeit in Bologna, wo er sie bei sich zu tragen pflegte, wenn er Ausflüge ins Gebirg machte. Vorsichtshalber steckte er diesen Dolch zu sich. Der nächste Weg zu dem Notar führte durch ein abseits gelegenes Viertel über den alten Johannisfriedhof, und man konnte nicht wohl voraussagen, wie lange die Unterredung mit Weigel dauern würde. Ambrosius war seit den Vorkommnissen der letzten Tage ängstlich und mißtrauisch. Er witterte überall drohendes Unheil, Angriffe und heimlichen Ueberfall.

Nach zwei Minuten kam Elma wieder die Treppe herauf. Sie bot ihm ein Glas, das er auf einen Zug leer trank.

„So! Und nun fort! Ich nehme den Schlüssel mit – für den Fall, daß es heut’ spät wird. Laß mir nur ja am Hausthor den Riegel auf!“

„O, ich lege mich nicht, eh’ Ihr zurück seid.“

21.

Fiebernd im Drang seiner erneuten Hoffnung rannte Doktor Ambrosius durch die Gassen und Gäßchen des winkligen Hainviertels und dann quer über den längst außer Gebrauch gestellten Johannisfriedhof nach dem Haus des Notars.

Rolf Weigel war jetzt eben von seinem Abendspaziergang heimgekehrt und saß nun allein in der niedrigen Wohnstube, deren schlicht wertvolle Einrichtung den besten Geschmack verriet. Alles war hier gediegen und prunklos – von dem schwerwuchtigen Ebenholzschrank mit den zwei mächtigen Rundsäulen bis zu der vornehmen altenglischen Wanduhr, deren metallene Zeiger durch die bläuliche Dämmerung mattgolden herüberblinkten.

Rolf Weigel, der neulich bei der Lustspielaufführung in der städtischen Waldschenke den jungen Arzt und Hildegard Leuthold beobachtet hatte, wußte sofort, was Doktor Ambrosius wollte. Er führte den Gast höflich in das anstoßende Schreibzimmer, setzte zwei Kerzen in Brand und rückte ihm einen Korbsessel heran, während er selber dicht vor dem Ofen Platz nahm und den graumähnigen Kopf in stummer Erwartung wider die grünlichen Kacheln lehnte. Mit einer artigen Handbewegung lud er den späten Besucher zum Sprechen ein.

„Ich bin der Verzweiflung nahe!“ begann Ambrosius. „Ihr, mein hochwürdigster Herr Notarius, seid meine letzte Zuflucht.“ Rolf Weigel senkte ein wenig die hohe Stirn, aber er sagte nichts. Doktor Ambrosius fuhr in herzklopfender Aufregung fort.

„Ganz Glaustädt weiß, unter welch krasser Beschuldigung die Tochter unseres allverehrten Freundes Engelbert Leuthold ins Stockhaus geschleppt worden ist. Ich kann mich also hier kurz fassen. Alles, was ich zu sagen habe, besteht in der Bitte. Helft! Rettet! Leiht mir Euren juristischen Rat, wie ich dies furchtbare Schicksal bekämpfen soll! – Mir vor allen Glaustädtern kommt es zu, für Hildegard einzutreten, zumal jetzt, wo ihr Vater lebensgefährlich erkrankt ist. Ich mache Euch kein Geheimnis daraus, daß ich im stillen mit Hildegard Leuthold versprochen bin … Und nun dieser gräßliche Eingriff! Teuerster Herr Notar! Giebt es nicht eine Möglichkeit, dem drohenden Unheil hinterrücks in den Arm zu fallen? Irgend ein Glaustädter Landesgesetz, eine halbvergessene Verordnung, eine verwertbare Glosse? Der kleine Notarius schüttelte schwermütig den Kopf. „Ich fürchte, nein!“ sagte er seufzend. „Erwägt nur eins: das Malefikantengericht des Balthasar Noß ist ein Ausnahmetribunal, wie ja die Hexerei überhaupt als crimen exemptum gilt! Das allerhöchste Dekret hat den Zentgrafen mit so ungewöhnlichen Vollmachten ausgerüstet, daß er kühnlich von sich behaupten kann: Ich bin ebenso souverän wie der Landesherr!“

„Aber das widerstrebt doch jeder gesunden Vernunft!“ rief Doktor Ambrosius, außer sich. „Selbst dem Straßenräuber und Mörder wird doch ein Rechtsbeistand zugesellt, der alles zusammenträgt, was seinen Schützling entlasten kann.“

„Freilich, freilich! So will’s schon die peinliche Gerichtsordnung Karls des Fünften. Aber der „Hexenhammer“ und seine Ausleger haben hier eine gar üble Wandlung geschaffen. Im Hexenprozeß gilt jetzt nachgerade der Grundsatz, daß ein Verteidiger die Wahrheit notwendig verdunkeln müsse, dieweil er unmöglich ein guter Christ sein könne. Der Blutrichter läßt sogar die Vermutung gelten, wer als Rechtsbeistand für Zauberer und Hexen eintrete, der liebäugle selber mit Satanas und sei von ihm zum Nachteile der Gerechtigkeit inspiriert.“

„Unglaublich!“

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