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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Rettenbacher, der gerade nach Hause gekommen war, fertigte die Boten ab.

An die wieder geschlossene Flurthür gelehnt, hauchte das Mädchen, die gefalteten Hände unters Kinn gedrückt: „O, warum sind wir jetzt nicht allein!“

Rettenbacher nickte. In der tiefen Dämmerung hier draußen – nur die geöffnete Küchenthür gab etwas Licht – konnte sie seine Züge nicht deutlich unterscheiden. „Die Geschichte wird sich etwas anders abwickeln, als wir uns gedacht haben,“ sagte er ruhig. „Schieben Sie ihn nur hinein. Man wundert sich sonst, wo Sie bleiben.

„Sie kommen doch mit? Sie müssen doch Mutters Gesicht sehen.“

„Nein,“ antwortete er ebenso ruhig, „das hat nicht viel Sinn, da das Programm doch geändert ist. Das Gesicht Ihrer Frau Mutter seh’ ich mir nachher an. Erlauben Sie, daß ich Ihnen aufmache. So. Bitte!“

Da die Thür – er öffnete sie schon – nach außen ging, blieb er hinter ihr stehen, man sah ihn nicht. Hanna behielt keine Zeit mehr, sich zu besinnen. Blaß, zitternd in der Erregung durch diese zwiespältigen, miteinander streitenden Gefühle von Freude und Enttäuschung, schob sie den Stuhl vor sich her ins Zimmer. Die Thür schloß sich lautlos hinter ihr.

„Um Gotteswillen“ – stieß Frau Wasenius, völlig verwirrt, heraus.

„Nanu?“ sagte Thomas.

Hannas Fassung war schon zu Ende. Sie ließ den Schiebegriff los, lief um den Stuhl herum zur Mutter, drückte, niederkniend, ihr Gesicht in deren Schoß und brach in Schluchzen aus.

„Aber um Gotteswillen,“ wiederholte Frau Wasenius, „was ist das?“

Hanna erhob das naßgeweinte Gesicht. „Erschrick nicht, Mutterherz,“ bat sie mit erstickter Stimme, „es ist nur eine Ueberraschung, ich habe mir’s den Winter über gespart, ich wußte ja nicht, wie alles werden würde, du mußt dich aber nun doch noch freuen bitte, bitte!“

Frau Wasenius antwortete nicht. Sie atmete ein paarmal schwer auf. Dann umfaßte sie den Kopf des Mädchens mit beiden Händen und drückte ihn an ihre Brust, beugte sich, küßte das weiche Haar, die Stirn, die Augen, den Mund, küßte, schwieg und küßte.

Nach einem Weilchen regte sich etwas in der Ecke neben dem Sofa. Thomas war in einem plötzlichen, zwingenden Gefühl mit drei leisen Schritten bis an die Wand zurückgetreten. Sie hatten ihn auch wirklich einige Augenblicke lang vergessen.

Frau Wasenius hob nun den Kopf, mit beiden Armen umschlang sie fest ihr Kind, das, zusammenzuckend, glühendrot, sich erheben wollte. „Was hab’ ich hier?“ fragte sie aufschauend mit dem seligsten Mutterlächeln

„Einen Schatz,“ antwortete Thomas leise.

Fünf Minuten später empfahl er sich. Irgend etwas mahnte ihn, die zwei jetzt allein zu lassen.

Beim Abschied nahm er Hannas beide Hände und sagte ernst. „Ich glaube, Sie sind ein ganz köstliches Geschöpf. Ihre Mutter ist trotz allem und allem glücklich zu preisen. Auf Wiedersehen!“

Als er fort war, klopfte Hanna sogleich bei Rettenbacher an. Es kam aber keine Antwort. Bertha richtete dann aus, der Herr Doktor habe noch einmal fort müssen. Erst zum Abendbrot kam er heim.

Seinem vollkommen ruhigen, leidenschaftslosen Gesicht sah man nicht an, daß er vorhin aus dem Hause gelaufen war, weil ihn die schmerzliche Unrast der Enttäuschung, der Eifersucht und der Sehnsucht nicht mehr Wand an Wand mit dem Mädchen gelitten hatte. Hannas Schluchzen zauberte ihm jählings die Bilder der Samstagnacht vor die Seele. So hatte er seine Arbeit im Stich gelassen und sich davongemacht. Ein langer Marsch, immer unter den Bäumen am Kanal entlang, bis über den Zoologischen Garten hinaus, hatte ihm helfen müssen, seine Beherrschung zurückzugewinnen. Der „Omnibusbrief“ von daheim mit seinem Kindergeschwätz und seiner Mutterstimme musizierte derweilen auch in ihm herum und harfte allgemach seine arme Seele in die Ruhe zurück, die nur die Erkenntnis eines eng umgrenzten Pflichtgebots erzwingen kann.

So war er umgekehrt und nach Hause gegangen. Er fand Frau Wasenius schon in ihrem schönen Stuhl. Die Hochflut der freudigen Erregung, der Augenblick, auf den er sich mit Hanna zusammen den ganzen Winter hindurch gefreut hatte, war vorbei. Er war darumgekommen durch diesen hereingeschneiten Menschen, den er noch nicht einmal gesehen hatte, dessen laute, etwas metallisch klingende Stimme aber, fast in jedem Wort vernehmlich, zu ihm in das Zimmer gedrungen war und sich ihm je länger, je mehr auf die Nerven gelegt hatte. Auf seine durch Ueberarbeitung und verbissene Herzensnot zerquälten Nerven!

Ganz unberechtigt, wie er sich selber vorwarf, hatte er von der ersten Stunde an einen nagenden Verdruß gegen diesen Eindringling gefühlt. Eine dumpfe Furcht, ein Vorgefühl vieler kommender Bitternisse hatte sich ihm auf die Brust gewälzt. Aber die Gewohnheit der strengen Beherrschung schützte ihn vor Selbstverrat. Sogar Frau Wasenius suchte heute abend vergeblich den Nachglanz der Schmerzen, deren Anblick sie gestern so erschüttert hatte.

Unwissentlich baute er gerade mit dieser undurchdringlichen Ruhe einen sichern Schutzwall zwischen sich und dem Mädchen auf, von dem er nicht wußte, daß es drüben kämpfte, wie er hüben.

Ueber die kommende Trennung war nach dem ersten Male nicht mehr gesprochen worden. Ein jedes von den dreien hütete sich, hieran zu rühren. Rettenbacher ließ sich von der mißglückten Unterhandlung mit dem Hauswirt erzählen. Er hatte kein Wort darüber verloren, daß man dem Fremden gewährt hatte, was ihm versagt worden war, die halbamtliche Eigenschaft des Bankiers als geschäftlicher Beirat leuchtete seinem Gerechtigkeitsgefühl ein. Daß es aber diesem gewiegten Herrn nicht gelungen war, etwas auszurichten, füllte einen kleinen verschwiegenen Winkel seines eifersüchtigen Herzens mit einem freilich nicht ganz eingestandenen Gefühl von Genugthuung.

Seine Hoffnung war gewesen, daß mit diesem zweiten, immerhin noch geschäftlichen Besuch des Bankiers der lose Zusammenhang zerblättern würde. Aber diese Hoffnung sah sich getäuscht. Thomas kam wieder und wieder. Die beiden Männer trafen jetzt auch zusammen. Aber es begegneten sich zwei unvermischbare Elemente, die darum bald anfingen, sich zu bekämpfen. Jeder war vor dem andern auf der Hut, trat mit geschlossenem Visier, mit eingelegter Lanze aufs Feld. Rettenbachers steifer Zurückhaltung setzte Thomas alsbald herablassende Gönnerhaftigkeit entgegen, die aber an Arnolds starrer Kälte ablief wie Wasser. Verstohlen streifende Spürblicke gingen zwischen Hanna und dem „Pensionär“ hin und wieder, von dem Mädchen unbemerkt, von Rettenbacher mit stillem Ingrimm aufgefangen. Er glaubte, einen Wilddieb in dem lieblichen Revier zu wittern, das ihm verboten war, und schwor sich, mit scharf geladener Waffe Posten zu stehen. Thomas jedoch, der jetzt immer Zeit hatte, wußte bald genug die Stunden, in denen der unbequeme, steife Herr beschäftigt war, und richtete sich danach ein. Noch ehe der letzte Strauß verwelkt sein konnte, erschien er mit einem neuen, der Blumenduft blieb heimisch im Zimmer. Etwas anderes „mitzubringen“, war ihm verboten worden. Um so verschwenderischer erging er sich in dem erlaubten Vergnügen. Der Fensterplatz der Mutter glich einer blühenden Laube. Thomas konnte sich gar nicht genug thun in dem Ausdruck der wärmsten Sympathie. Die stille, gemütliche Klause hatte es ihm nun einmal sofort angethan, er war nicht mehr der verwöhnte Herr aus der Tiergartenstraße, wenn er hier eintrat. Das Mitgefühl für die gelähmte Frau durchwärmte das Herz, der Respekt vor dem stillen, unermüdlichen Fleiß des tapferen Mädchens erfüllte ihn mit Rührung, sein Entzücken über die Geschicklichkeit, mit der sie heute die Nadel, morgen das Schnitzmesser, übermorgen den Brennstift führte, war ohne Grenzen. In Ermangelung einer andern Möglichkeit, ihr zu helfen, fing er an, Bestellungen über Bestellungen zu machen, für sich, für Verwandte, Bekannte, die sich seiner als Vermittler zu bedienen hatten. Er schraubte ihre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_554.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)