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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

bezeichnen. In den scheublickenden Augen des Blutrichters glomm unverkennbar die Feigheit eines bösen Gewissens.

Mehr bedurfte es nicht, um dem ohnehin fiebernden Doktor Ambrosius die letzte Besinnung zu rauben. Unbekümmert um alles, was folgen konnte, vielleicht auch halb unbewußt von der thörichten Hoffnung erfüllt, er werde auf diese Art noch am ersten sein Ziel erreichen, stürzte er auf Balthasar Noß zu, packte ihn mit eisernem Griff und warf ihn rücklings zu Boden.

„Elender!“ ächzte er heiser vor Aufregung. „Bete zu Gott um Verzeihung für all deine Schandthaten! Du kommst nicht mehr lebendig von dannen!“

Balthasar Noß machte verzweifelte Anstrengungen, sich von den Fäusten seines Gegners zu befreien. Doktor Ambrosius aber hielt fest.

„Hört jetzt, was ich Euch sage,“ raunte er ingrimmig und stemmte dem Blutrichter das Knie hart auf die Brust. „Gebt Ihr nur einen einzigen Laut von Euch, so mach’ ich die Drohung wahr! Ich töte Euch auf der Stelle. Er schwang in der Linken den blaublitzenden Dolch. „Mag dann mit mir geschehen, was der Himmel verhängt! Mir ist das Leben nichts wert mehr, falls ich nicht vollende, was ich mir vorgesetzt habe.“

Er ließ den Keuchenden los.

„Steht auf!“ befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch litt. „Tretet hier in den Baumschatten! So. Und nun hört! Ihr habt aus gemeiner Bosheit und Habgier die Tochter Franz Engelbert Leutholds in Haft genommen …“

„Nicht ich!“ röchelte Balthasar Noß. „Doktor Xylander, mein Beisitzer, hat das veranlaßt.“

„Gleichviel. Ihr, Balthasar Noß, führt den Prozeß, und bei Euch ist die Macht, sie frei zu geben. An das elende Ammenmärchen vom Teufelspakt glaubt Ihr ja selbst nicht. Aber an einen Gott werdet Ihr glauben, der den Eidbruch mit ewigen Strafen heimsucht. Wenn Ihr mir nun bei diesem allwissenden Gotte nicht schwört, gleich morgen nach Tagesanbruch das Fräulein aus ihrer Haft zu entlassen und ihre Schuldlosigkeit öffentlich auszusprechen, so stoße ich Euch noch in dieser Minute den Stahl ins Herz! Und auch das müßt Ihr geloben, daß Ihr auf keine Art Euch rächen werdet für diese Nötigung – weder an mir, noch an sonst wem! Könnt und wollt Ihr das schwören bei Eurer Seelen Seligkeit, so mögt Ihr ungekränkt weiterziehen. Andernfalls …“

Er zückte den Dolch.

„Wahrlich, Ihr seid von Sinnen!“ murmelte Balthasar Noß. „Wenn nun die Inkulpatin schuldig ist …! Bedenkt Ihr auch, was Ihr mit Eurem tollkühnen Verlangen Euch anmaßt? Ihr vergewaltigt den höchsten Vertreter unseres allergnädigsten Landgrafen!“

„Fahrt zur Hölle mit Eurem Landgrafen! Der ist kein Vater für seine Unterthanen, sondern ihr Peiniger! Ihr aber schwört jetzt, wie ich’s Euch vorsage, sonst – beim allmächtigen Gott – ist Euer Leben verwirkt!“

Balthasar Noß schaute sich angstvoll um. Aber rings auf dem weiten Friedhofe war es totenstill – und der blindwütige Mann da mit den stählernen Muskeln und dem wildflammenden Blick ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er zum Fürchterlichsten entschlossen sei. Und Balthasar Noß beugte sich. Heimlich schäumend sprach er Silbe für Silbe nach, was Doktor Ambrosius ihm vorsagte. Bei seiner Seelen Seligkeit schwur er, daß er morgen in aller Frühe Hildegard Leuthold entlassen und sich niemals an irgend wem für die erlittene Gewaltthat rächen wolle.

Nun gab ihn der junge Arzt frei. Keuchend und murrend brachte sich Noß den verschobenen Mantel in Ordnung und ging schnell seines Wegs. Innerlich tobte und raste er.

Doktor Ambrosius schaute ihm tief atmend nach. Während der heißen Erregung dieses unerwarteten Auftritts hatte er siegesfroh triumphiert. Je mehr aber die dunkle Gestalt zwischen den Kreuzen und Leichensteinen dahinschwand, um so rascher und peinvoller kehrte die kaum verwundene Beklommenheit wieder. Es schien ihm jetzt beinahe gewiß, daß Balthasar Noß den abgenötigten Schwur nicht halten würde. Ambrosius machte sich die heftigsten Vorwürfe. Er hätte der unseligen Eingebung des Augenblicks unter keiner Bedingung folgen dürfen. Nun war alles verloren, trotz der Bemühungen Weigels, der doch vielleicht einen Aufschub erzielt hätte! Er selbst, Ambrosius, durfte sich auf das Schlimmste gefaßt halten.

Gleichwohl sprach er sich alsbald wieder Mut ein. Der Eid war zu unzweideutig, zu schreckhaft bindend gewesen. Der nämliche Mann, der seine Mitmenschen dutzendweise dem Scheiterhaufen und dem Schwert überantwortete, weil er sie des Verrates an Gott zieh, konnte nicht selber ohne Scheu vor diesem Gott sein. Vielleicht war Balthasar Noß nur in der Form rauher und blutiger, aber bei all seiner Habgier doch ein Gesinnungsgenosse des gutgläubigen Adam Xylander.

Von solchen Erwägungen hin- und hergeschleudert, ging Doktor Ambrosius in trübster Stimmung nach Hause. Elma war aufgeblieben.

„Habt Ihr etwas erreicht?“ fragte sie schüchtern.

Er strich ihr schwermütig über das dunkle Haar.

„Ich hoffe es,“ sagte er halblaut. „Morgen erzähl’ ich dir’s. Gute Nacht, Elma!“ Dann stieg er langsam und trauriger Ahnungen voll die Treppe hinauf.

22.

Als er dann sein Schlafzimmer betrat, war sein Vertrauen auf eine glückliche Lösung vollständig gesunken. Der lauernde Blick, den ihm Balthasar Noß nach dem abgenötigten Eidschwur zugeworfen, malte sich dem Verzweifelnden jetzt in der Rückerinnerung so haßerfüllt, daß er kaum noch begriff, wie er dem tückischen Wicht auch nur sekundenlang hatte trauen können. Und niederschmetternd überkam ihn das dumpfe Gefühl, als öffne sich ihm dicht vor den Füßen der Abgrund.

Geraume Zeit durchmaß er die kleine Stube mit rastlosen Schritten. Er wollte sein pochendes Hirn gewaltsam zur Ruhe zwingen. Doch es gelang ihm nicht. Nun trat er ins Mittelzimmer, riß dort ein Fenster auf und starrte erschöpft hinaus auf den schlummernden Marktplatz, dessen längliches Viereck bald in hellster Bestrahlung aufglänzte, bald sich in bleigraue Schatten hüllte.

Vor der Mondscheibe glitt weißqualmendes, wild zerrissenes Gewölk einher, zu phantastischen Urweltsleibern geballt, zu Lindwürmern und schweifschlagenden Riesenschlangen. Die Wasser des Röhrbrunnens plätscherten müde und schläfrig um die bekränzte Standsäule des Drachentöters – und rechts und links dehnten sich, je nach der Beleuchtung greifbarer oder verschleierter, die märchenhaft altertümliche Stadt, die Giebel und Schornsteine, die Erker, die zackigen Wetterfahnen, die mächtigen, kraus verschnörkelten Dachtraufen.

Jetzt erhob sich von Osten her ein langgezogener, aufstöhnender Windstoß. Seltsame, leis schwirrende Töne durchbrausten die Luft, ein Rieseln, ein Klappern und Kreischen. Dann wieder starre Lautlosigkeit. Ringsher träumende Mondnacht.

Doktor Ambrosius ward plötzlich von wahnwitziger Sehnsucht ergriffen. Fern über den äußersten Dächern ragten die Wipfel des Lynndorfer Gehölzes auf. An dem Saum dieses Waldes führte der Weg entlang, den er damals mit Hildegard Leuthold gegangen war, als er ihr nach der Lustspielvorstellung in der Waldschenke sein volles Herz offenbarte. Wie unvergleichlich schön und gut war sie gewesen! Wie glücklich und hoffnungsreich! Und jetzt …?

Er trat vom Fenster zurück. Von neuem rannte er ruhelos auf und nieder. Er mühte sich krampfhaft, die entschwindende Hoffnung festzuhalten. Aber umsonst. Immer wieder packte ihn der zermalmende Qualgedanke: deine Rechnung ist falsch!

Endlich ging er ins Schlafzimmer. Geistig und leiblich todmüde, setzte er sich auf den Rand der Bettstatt. Eine wohlthätige Willensunfähigkeit übermannte ihn. Von Zeit zu Zeit betastete er die Brusttasche, wo er den Dolch trug. Er sprach sich vor: „Diese Waffe da ist deine letzte Zuflucht!“ Wie? – das blieb ihm noch unklar. Würde er sich in dämmernder Frühe den Weg zu Balthasar Noß bahnen? Oder den Stahl wider sich selbst kehren? Aber wer trat dann hilfreich ein für Hildegard Leuthold? Und was frommte ihr noch die Freiheit, wenn sie den Mann ihrer Wahl draußen nicht wiederfand?

Seine Gedanken verwirrten sich. Er sank schräg über das aufgedeckte Lager und schlief – angekleidet wie er war – ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_558.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)