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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Es klingelt übrigens“, unterbrach sie sich erleichtert. „Bertha ist nicht da. Ich will nur schnell nachsehen. Es wird Rettenbacher sein.“

Er war es auch.

Mit seinem gewohnten gleichmütig höflichen Gruß trat er ein und wollte nach einer Erkundigung über das Befinden der Mutter in sein Zimmer gehen. Aber das Mädchen hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

„Sagen Sie! Raten Sie mir! Ich bin so unruhig.“ Sie mußte sprechen, die innere Spannung war unerträglich.

„Was ist denn?“ fragte Rettenbacher aufmerksam. Er öffnete zugleich seine Thür. „Darf ich bitten? Hier auf dem Flur – das Mädchen hört jedes Wort.“

Hanna schüttelte den Kopf und blieb auf der Schwelle stehen.

„Bertha ist nicht da. Aber Mutter könnte uns hören“ flüsterte sie, den Finger über die Lippen legend.

Er betrachtete sie unruhig forschend.

„Also?“ sagte er.

Sie wiederholte ihm das kleine Gespräch mit Thomas.

„Was kann er meinen?“ schloß sie. „Wen kann er als Retter im Sinn haben? Warum sagt er nicht einfach das und das? Und so und so? Warum geht er erst weg und läßt mich in dieser Unruhe?“

„Das weiß ich nicht,“ sagte Rettenbacher langsam. Er blickte starr auf das Buch nieder, das er in der Hand hielt, und drückte dann die Lippen fest zusammen.

Hanna sah es.

„Warum schweigen Sie?“ fragte sie fiebernd. „Ich fürchte mich, das sehen Sie doch! Was soll ich thun?“

„Aber gar nichts vorderhand, Fräulein Hanna,“ beschwichtigte er mit einem Lächeln, das ihm aber nur schlecht gelang. „Abwarten müssen Sie. Herr Thomas ist ja ein kluger Kopf. Wahrscheinlich ist ihm endlich irgend ein Ausweg in den Sinn gekommen, auf dem man Meister Giesecke entwischen kann.“

„Er sagt etwas vom ‚Teufel‘, von einem ganz menschlichen Teufel. Was kann er damit meinen?“ fragte sie mit der Ungeduld der Angst.

„Ich weiß nicht,“ antwortete er kurz. „Es wird ein Witz gewesen sein.“

„Ein Witz? Es ist auch wohl hier der Ort, um Witze zu machen! Glauben Sie das von Thomas?“

„Nein! Sie verstehen mich falsch. Ich wollte ihm nichts anhaben. Sie hatten ja aber angefangen. Mit dem Teufel, mein’ ich. Da müßte er kein richtiger Berliner sein, wenn er sich die Gelegenheit zu einem ulkigen Wortspiel vorbeigehen ließe. Weiter wird es nichts gewesen sein. Uebrigens – Sie gestatten die Bemerkung – Sie sehen jammervoll aus. Ueberreizt, übermüdet! Wo soll das hin? Sie schlafen zu wenig.“

Sie lächelte bitter schwermütig.

„Wo sollt’ ich die Muße dazu hernehmen? In manchen Zeiten brauchte man eigentlich für jeden Tag zwei Nächte. Eine für den Schlaf, eine für die Sorgen. – Also bis nachher! Ich decke jetzt den Tisch.“

Sie nickte ihm zu und schlich langsam davon.

Er trat völlig ins Zimmer und schloß die Thür.

Eine Röte, die Flamme der zurückgehaltenen Erregung, stieg ihm jählings ins Gesicht.

„Kommt es?“ murmelte er dumpf vor sich hin. „Soll dir auch dieser Kelch nicht erspart bleiben, armes Ding? Und keine Warnung möglich. Von wem? Von mir? Ich bin gerade der Rechte dazu! Wenn die Mutter gesund wäre! Der müßte ich sagen, was ich fürchte. Aber wer redet mit einer so schwer herzkranken Frau über solche Sachen? – Dem Teufel ihre Seele! – Diese Seele wird es sein, die sie schützt. Geschehen wird ihr nichts. Sorge hab’ ich darum nicht! Aber die Bitterkeit, der Ekel der Erkenntnis! Daran kommt sie nicht vorbei. Was hätte ich ihr eben sagen können zur Warnung, was sie nicht entsetzt haben würde, wenn sie es verstanden hätte? Diese Furcht, die von heute abend, die ist nur Nervenschreck. Sie ist nicht mehr gesund. Ahnen thut sie nichts. Ist ja doch all die Wochen blind und taub an diesen heißen Augen vorbeigegangen. Sieht und hört nichts als die Sorge um die Mutter und die Angst vor der Zukunft. Von der Mutter freilich begreif’ ich die Arglosigkeit nicht. So richtet Krankheit die Menschen zu. Hat sie sich keinen Vers auf diese Besuche gemacht, zu denen all und jeder Vorwand fehlte? Was wird sie sagen, wenn das nun plötzlich aufhört, vom nächstenmal an? Zu verheimlichen wird es nicht sein. Wie wird der Schreck sie mitnehmen. Und Hanna! Mein armes Mädchen!

Fast hätte er gestöhnt. Er schüttelte sich, er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um sich zu beruhigen. Er suchte sich auch selber zuzureden. Berechtigte ihn denn die Auskunft über Thomas, die er bei seinen sorgsam und vorsichtig eingezogenen Erkundigungen erhalten hatte, zu diesem schnöden Verdacht? Wenn er gerecht sein wollte. Nein. Ganz und gar nicht. Wenigstens nicht mehr als jedem andern Mann gegenüber, der schwer reich war und eine reizende Villa am Tiergarten bewohnte. Daß er mit etwa achtunddreißig Jahren noch nicht geheiratet hatte, war seinen Bekannten schon etwas verwunderlich erschienen, besonders, da er niemals eine ausgesprochene Abneigung gegen die Frauen verraten hatte. Freilich auch keine entscheidende Vorliebe. Er „amüsierte“ sich nicht rücksichtsloser und lebemännischer als hundert andere mit denselben Vorzügen an flotter Schmuckheit der Erscheinung und auskömmlicher goldner Basis. Hatte er wirklich ernsthafte Abenteuer zu verzeichnen, so war seine Diskretion nach dieser Richtung lobenswert. Als Kaufmann genoß er den seltenen Ruf absolutester Zuverlässigkeit und fleckenlosen Anstandes.

Nun?

Er blieb stehen. Er mußte über sich selber lächeln. Es war ihm sogar sehr nach Beschämung zu Mut. Was in aller Welt berechtigte ihn, wie ein Wegelagerer aus dem Hohlweg über diesen Mann herzufallen? Nichts, als das allgemeine Mißtrauen gegen das eigene Geschlecht. Nichts, als die allgemeine Unwahrscheinlichkeit, daß es ein reicher Herr mit einem armen Mädchen anders als hinterhältig meinen könne. Nichts, als der ohnmächtige Grimm über die eigene Armut. Nichts, als die brennende, nagende, die höllische Eifersucht. Das war’s. Ein nobler Richter, beim Zeus! Eigennutz, Neid – hübsche Triebfedern! Schäme dich, Arnold Rettenbacher! Und duck’ dich! Und wart’ ab! Es bleibt dir immer noch unbenommen, ihm zu geeigneter Zeit an die Kehle zu springen. Wart’s nur erst ab!

Er that so.

Auch Hanna wartete. Aber diese zwei Tage der Spannung brauchten den Rest ihrer Seelenruhe auf.

Als Thomas endlich kam – sie öffnete ihm selbst die Thür – sah sie ihn nur scheu fragend an. Zu sprechen wollte ihr nicht mehr gelingen.

Aber auch er blieb vorläufig stumm. Langsamer und bedächtiger als gewöhnlich legte er den üblichen Blumenstrauß auf das Flurtischchen und hängte seinen Hut an den Riegel. An der Wohnstubenthür anhaltend, sagte er mit einer abwehrenden Bewegung: „Kann ich Sie zuerst ein paar Minuten unter vier Augen sprechen?“

Hanna begann zu zittern; ganz still ging sie ihm voran in Rettenbachers Zimmer. Es war das einzige, das ihr zur Verfügung stand. Mit einem schüchternen, gleichsam um Vergebung lullenden Streifblick sah sie sich um. Es bedrückte sie, den Arbeitsraum des Freundes, den sie gewohnt war, in Ehren zu halten, zur Besuchsstube zu entwürdigen. Rettenbacher konnte zwar erst nach Stunden heimkommen, erst gegen Abend, aber sie glaubte ihn doch mit finster verwundertem Gesicht auf der Schwelle stehen zu sehen. Mit einer raschen Bewegung, die um Beschleunigung bat, wandte sie sich an den Gast, der seltsam erregt und unschlüssig im Zimmer auf und ab zu gehen begonnen hatte.

„Ja,“ sagte er, mit einem kurzen Ruck vor ihr stehen bleibend, „was ich sagen wollte. Aber – wie sehen Sie denn aus? Ganz blaß. Ganz verstört. Und Ihre Hände zittern. Was ist denn los?“

„Gar nichts,“ antwortete sie gequält. „Sie wollten mir aber etwas mitteilen. Bitte! Ich dächte meine Mutter nicht zu lange allein zu lassen. Sie wird schon jetzt unruhig sein.“

„Na also,“ fing er wieder an. „Daß ich’s kurz mache. Sie erinnern sich, was ich Ihnen vorgestern sagte. Draußen an der Thür?“

Hanna nickte nur.

„Es giebt also ein einfaches Mittel, um Ihnen aus all Ihren – Ihren – Aergernissen und so weiter herauszuhelfen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_566.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2017)