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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Sie wollte ja auch. Sie wehrte sich gar nicht mehr. Mit dem eigentlichen Widerstand war es schon aus. Den hatten bereits die ersten heißen Thränen da drinnen ertränkt. Und erfüllte sich nicht ihr tiefster Herzenswunsch: Der Mutter helfen zu können, dafür wäre ihr ja kein Opfer zu schwer geworden! So hatte sie immer gedacht. Nun war sie so weit. Und dachte jetzt noch an ein Zögern.

„Ich möchte dich nicht beeinflussen, mein Kind. Daß du etwa dächtest, du solltest es um meinetwillen thun!“

„Aber Mutterchen. Nein. Still!“ Damit es auf ihr lastete, das Opfer, nicht wahr? Damit sie davon erdrückt würde! Still! Man thut es, aber man redet nicht davon. „Mutterchen, deswegen sorge dich nur nicht.“

„Und siehst du – ich wollte noch sagen, wenn er ein häßlicher, unsympathischer Mensch wäre, gegen den man Widerwillen hätte! Und wenn er ungütig wäre, hart! Aber so – ich glaube wirklich, ich täusche mich da nicht; er ist gut. Von so einer frischen Güte, weißt du.“

„Gewiß, Mutterchen, ich glaube es auch.“

„Und er scheint dich doch sehr zu lieben. Daß ich davon nichts gewahr worden bin! Daß mir der Gedanke nie gekommen ist!“

„Aber war er denn so naheliegend? Mir scheint, nicht. Ein sehr reicher Mann, ein sehr armes Mädchen.“

„Mit einer sehr kranken Mutter. Nein, du hast recht. Gewöhnlich ist der Fall sicher nicht. Obwohl es mir nicht gerade ein so übergroßes Wunder dünken will, daß man dich lieben lernt, wenn man dir näher kommt, mein lieber Trost du, mein Augen- und Herzenstrost! Sehen hätt’ ich’s eigentlich doch müssen. Ich war blind!“

War diese Seelenblindheit ihr Los? Auch an dem anderen, diesem Aermsten, war sie ja offenen Auges vorbeigegangen und hatte nicht gesehen, daß er Schmerzen litt. Blutete das Kind da vielleicht auch? Verblutete sich ganz in der Stille und lächelte dazu?

„Und siehst du – wie dieses Herzklopfen den Atem zerdrückte, wie es die Kehle hinausflatterte – siehst du, daß da nichts ist, was du aufgeben müßtest – ich meine, was dir wehe thäte, aufzugeben – das ist mir ein solcher Trost“ – ein Zusammenzucken – ein Blaßwerden – „Gewiß, Mutterchen, das glaub’ ich, das kann dir auch ein Trost sein.“

„Denn sonst dürftest du’s nicht thun. Ich litte es nicht. Frei muß dein Herz sein für diesen Weg.“

„Freilich, das muß es. Also sorge dich nicht.“

„Und du thätest es wirklich gern.“

„Ich thue es gern. Alles wird gut werden!“

„Alles wird gut werden, ja, ja! Keine Angst und Not mehr, kein hartherziger Hauswirt, kein Arbeiten von früh bis spät für das Sündengeld, du mein armes Kind!“

„Und geschickte Aerzte für dich, Mutterchen, und gute Pflege – und gesund werden!“

„Gesund werden – daß du nachher geborgen bist, das erlöst mich! Daß ich darüber nun ruhig einschlafen kann.“

„Sprich davon nicht, Mutter, ich bitte dich. Kein Nachher!“

Nach diesem wurde es still im Zimmer. Vor dem Gesicht des Mädchens war die Mutter erschrocken, vor diesem finstern Gesicht, das plötzlich wie in Nacht getaucht aussah. Und vor der heiseren Stimme, die beim letzten Wort zerbrach.

Hanna faßte sich aber bald genug. Sie stand auf und warf die Stickerei, die ihr hatte helfen müssen, den Augen der Mutter auszuweichen, auf ihren Sessel zurück. Ich bin ja wohl verrückt, fuhr ihr durch den Kopf. Wie darf ich mich so gehen lassen! Halbe Arbeit, erbärmliche Arbeit!

Lächelnd beugte sie sich tief über die Mutter und küßte sie auf beide Augen.

„Und nun wollen wir also diesem Herrn Thomas mitteilen, daß er glücklicher Bräutigam ist. Warum soll der arme Mann noch bis morgen auf die Entscheidung warten?“

Frau Wasenius faßte die Tochter an den Händen und zog sie nahe zu sich. „Versprich mir –“ begann sie und brach wieder ab.

„Was, Mutter?“

„Schwöre mir, daß du es freudigen Herzens thust.“

„Bei wem oder was soll ich schwören?“ fragte sie so heiter sie nur konnte.

„Denk’ an den Vater und sage mir: Ja, ich thue es gern.“

„Mein Mutterherz, an den Vater will ich denken und dir sagen: Ja, ja, ja! Gilt dir das so viel wie ein Schwur?“

„Es gilt,“ antwortete sie mit Thränen in den Augen. „So schreib ihm also!“ –

Rettenbacher fand Frau Wasenius allein, als er kurz vor dem Nachtessen aus seinem Zimmer herüberkam. Hanna werde gleich zurück sein, sagte die Mutter, sie besorge nur noch etwas kaltes Fleisch. Es habe sich eben ein Gast angesagt, Thomas. Und nach einer kleinen Pause, mit sanfter Stimme, die sich gleichsam zu streicheln, zu trösten bemühte: „Sie finden nämlich eine große Veränderung, lieber Freund, eine Veränderung, auf die niemand gefaßt war – Hanna ist Braut.“

Rettenbacher fuhr heftig zusammen; er stieß dabei mit der Hand an die Lehne des Stuhles, neben dem er stand. Diese Lehne umklammerte er jetzt so fest, daß ihn die Finger schmerzten.

Das erste überwältigende Gefühl nach dem Schrecken war das der Erleichterung gewesen. Kein schlechter Kerl also! Aber gleich schlug darüber die aufschießende Flamme der wütenden, qualvollen Eifersucht zusammen. er nimmt sie mir weg. Nun wird sie niemals die Meine!

Frau Wasenius strich mit unsicherer Hand am Rande ihrer Decke hin und her. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, sie fand auch in der bitteren Verlegenheit ihrer mitleidsvollen Teilnahme, die sie ja nichts zeigen durfte, kein Wort, von dem sie nicht gefürchtet hätte, es möchte ihn verletzen.

Er murmelte etwas Unverständliches, räusperte sich und fragte dann vernehmlich, unter dem offenbaren Zwang, sich nun sogleich und durchaus zusammenzunehmen. „Wohl heute?“

„Ja. Heute nachmittag. Vor einer Stunde brachte Bertha ihm die Antwort. Sie kehrte mit dem Bescheid zurück, daß er ihr nachkäme. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Er hatte nur mit Hanna gesprochen.“

„So möchte ich nicht stören,“ sagte er schnell. „Sie gestatten mir wohl, mich für heute abend zu beurlauben. Ich werde ja noch Gelegenheit haben, Fräulein Hanna – – also – Guten Abend!“ Er trat auf sie zu. In der Dämmerung unterschied sie seine Züge nicht mehr genau. „Und meinen herzlichen Glückwunsch!“

„Lieber, guter Freund,“ sagte sie sanft, mit etwas bebender Stimme und faßte seine Hand mit ihren beiden. „Ich hoffe, es wird alles gut werden.“

„Ich hoffe es auch,“ gab er zurück; es gelang ihm, zu lächeln, der kranken Frau zuliebe, seinem Stolze zuliebe. Ein schattenhaftes Lächeln, das der Mutter ins Herz schnitt. Sie verlor ihre Beherrschung, vergaß ihren Vorsatz, sich nichts von ihrer Entdeckung merken zu lassen. Sie zog ihn zu sich heran, nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn.

„Mein lieber, armer Junge.“

Sehr erschrocken richtete er sich auf, drückte ihr die Hand und ging schnell zur Thür hinaus.

Fast wäre er nahe beim Hause mit Hanna zusammengetroffen.

Er sah sie noch zur rechten Zeit und kreuzte eilig, von ihr unbemerkt, nach der andern Seite hinüber. Dort blieb er stehen.

Er folgte ihr mit den starren Blicken, die Brauen finster zusammengezogen. Ihre Züge konnte er nicht genau unterscheiden – sie hielt auch den Kopf gesenkt. Aber blaß schien sie ihm, und die Schultern hängend, der Schritt ohne Schnellkraft, zögernd.

Gleich nachdem sie unter dem Thorbogen verschwunden war, kam eine Equipage dahergejagt und hielt mit einem Ruck vor dem Hause still. Thomas sprang heraus und rief dem Kutscher ein Wort zu, der wendete und fuhr ab.

Rettenbacher war zusammengezuckt, es überlief ihn dann.

Er konnte sich leicht ausrechnen, wie schnell der Mann, der mit solcher Hast eingetreten war, das Mädchen auf der Treppe eingeholt haben würde, wie er sie anrufen, festhalten, umarmen würde – und küssen – mit seinen roten, vollen naschhaften, unersättlichen Lippen –

Er stöhnte dumpf, ein schüttelndes Zittern rann ihm über den Rücken hinunter. Dann wandte er sich ab und ging eilends davon.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1897, Seite 570. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_570.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)