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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

dünkt, dies Aktenstück müßte doch unserm Herrn Landgrafen endlich die Augen öffnen. Soll ich’s hier vorlesen?“

Die Ratsversammlung staunte und starrte. Der Einfall Wedekinds war ja so naheliegend. Gleichwohl hatte ihn keiner gehabt als dieser ungelehrte schlichte Zunftobermeister. Sehr gut! Recht so! Und so stark war die Erbitterung gegen die Blutrichter, daß nirgends auch nur der Schatten eines Bedenkens geäußert wurde. Niemand sprach etwa die Meinung aus, wer über Grausamkeiten und Willkür Klagen erhebe, der dürfe sich doch nicht die nämliche Schuld aufladen. Im Gegenteil: nachdem sich die erste Verblüfftheit gelegt hatte, erschollen überall Freudenrufe und die laute Beteuerung, es sei nur billig und recht, daß der schändliche Volkspeiniger Balthasar Noß, der all diese Greuel über die Stadt herauf beschworen, nun auch mit seiner eigenen Person dazu beitrage, dem irregeleiteten Landgrafen Otto den Star zu stechen.

„Lest, lest!“ riefen die Ratsgenossen. Und Karl Wedekind las.

Die Urkunde enthielt die volle Bestätigung alles dessen, was die Auslage behauptete. Balthasar Noß bekannte sich auf der ganzen Linie ohne jegliche Abmilderung schuldig. Infolge dieses Bekenntnisses wäre er nach bisheriger Praxis zweifellos zur Enthauptung, wenn nicht zur Einäscherung verurteilt worden.

Bei mehreren Stellen des Protokolls unterbrach den Vorleser ein helldröhnendes Hohngelächter. Die Sache entbehrte nicht eines gewissen Humors, trotz ihrer Schauerlichkeit. Eine wirksamere Darlegung, daß der gesamte Hexenprozeß mit seinem ruchlosen Beweisverfahren allen Gesetzen der Vernunft Hohn spreche, war noch niemals erbracht worden. Aber es kam noch besser.

Nach Ablegung seines eigenen Schuldgeständnisses hatte Herr Balthasar Noß in wahnwitziger Angst vor den Daumenschrauben und den spanischen Stiefeln auch eine Anzahl Mitschuldige angegeben. Da war erstens genannt Herr Doktor Adam Xylander, der jetzt im Krankenhause, von fürchterlichen Wahnvorstellungen gequält, sich des Mordes und des Meineids bezichtigte. Ferner die zwei bevorzugten Ratgeber des Landgrafen, der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen. Dann aber hieß es wörtlich wie folgt:

„Auch bekenne ich hier aus freien Stücken, daß unter den Zauberern und Missethätern, mit denen ich, Balthasar Noß, auf dem Herforder Steinhügel zusammengekommen bin, um Gott zu verleugnen und dem Satan zu huldigen, auch der Landgraf Otto von Glaustädt-Lich voll unermüdlichen Eifers thätig gewesen ist. Möge die aufrichtige Reue die ich jetzt fühle, wirkungslos bleiben in alle Ewigkeit, möge ich ohne Gnade verdammt sein, wenn ich hier nicht die volle, unverschleierte Wahrheit kundgebe. Landgraf Otto von Glaustädt-Lich hat mit den übrigen Unholden wüste Gelage gefeiert, lästerliche Gebräuche verübt und auf die höllische Hostie geschworen, so viel Böses zu thun als irgend in seiner Macht stünde. Er hat gräßliche und schamlose Tänze vollführt, Gott und die heiligen Engel beschimpft und sich zuletzt mit dem Teufel, der die Gestalt eines blühenden Weibes hatte, vermählt. Nachdem der Gerichtsschreiber mir das vorliegende Protokoll Wort für Wort zu Gehör gebracht und mich gefragt hat, ob ich etwa dies oder das widerrufe, erkläre ich nochmals jede Silbe für unanfechtbar, so wahr der Himmel sich meiner erbarmen möge! Des zum Beweise folgt hier meine eigenhändige Unterschrift. So geschehen in Glaustädt am achtundzwanzigsten Julius anno domini sechszehnhundertundachtzig.

Die Wirkung dieses Dokumentes auf die Versammelten war eine ungeheure. Von allen Seiten rief man dem Zunftobermeister Worte des Beifalls und der Bewunderung zu. Doktor Ambrosius schüttelte ihm voll Inbrunst die Hand. Er und Wedekind hatten fürwahr keinerlei Ursache, mit dem gestürzten Blutrichter Mitleid zu fühlen. Doktor Ambrosius war überdies zu gründlich von der Zweckmäßigkeit dieses Aktenstückes durchdrungen, als daß er Zeit und Stimmung für theoretische Skrupel gefunden hätte.

Nach zehn Minuten kam die Angelegenheit zur Beratung. Ein ältlicher Kaufherr meinte, das Protokoll sei ohne Beweiskraft, da sich der Landgraf sofort sagen werde, daß es erpreßt sei.

Die Schiefheit dieser Behauptung ward von Doktor Ambrosius augenblicklich erhärtet. Just auf dieses Erpreßtsein kam es ja bei der ganzen Idee des Zunftobermeisters an. Man wollte dem Landgrafen an diesem Beispiel darthun – was ihm auch ohnehin die gesunde Vernunft hätte sagen können, daß durch die schauerlichen Hilfsmittel der Folter, ja durch die bloße Furcht davor jedes, auch das unsinnigste Geständnis erzielt werden könnte.

Man kam überein, der Notar Weigel und zwei der vornehmsten Patrizier sollten sich heute noch mit dem seltsamen Dokument, von dem man übrigens eine beglaubigte Abschrift behielt, nach Lich begeben. Der Notar wurde beauftragt, die Ueberreichung so zu begründen, wie ihm dies der Augenblick eingeben würde. Daß Landgraf Otto die Abgesandten ohne Verzug anhören werde, dafür sprach eine ganze Reihe von Umständen. Ein offener Konflikt konnte bei der jüngsthin wieder zu Tage getretenen Hartnäckigkeit gewisser Dernburgscher Ansprüche leicht zu folgenschweren Erörterungen führen. Der Landgraf war also schon durch sein eigenes Interesse gehalten, den tapferen Glaustädtern eine goldene Brücke zu bauen.

Die Sitzung ward gegen zehn Uhr geschlossen. Der Notar und die beiden Ratsherren machten sich reisefertig.

Woldemar Eimbeck indes und Doktor Ambrosius begaben sich nach der Wohnung des Stadtpfarrers Melchers. Doktor Ambrosius fühlte das heiße Bedürfnis, dem ehrwürdigen Mann für die tröstende Teilnahme, die er der armen Verurteilten geschenkt hatte, innig zu danken. Woldemar Eimbeck wünschte mit Herrn Melchers über die Predigt des kommenden Sonntags Rücksprache zu nehmen. Hier und da zeigte sich noch in den Gemütern der Glaustädter ein heimlicher Zwiespalt. Woldemar Eimbeck hatte das mehrfach herausgefühlt. Ein Teil des Volkes hatte noch immer das dunkle Gefühl, als sei diese Verschwörung nicht ein Akt berechtigter Notwehr, sondern ein sündiger Aufruhr gewesen. Falls der Herr Pastor nun die Gewogenheit hätte, demnächst von seiner Kanzel herab ein paar Worte milder Beruhigung zu sprechen und das Thema von dem getretenen Wurm zu erörtern, und von dem Bogen, der da zerbricht, wenn er zu straff gespannt wird, dann mochte das viel dazu beitragen, die allgemeine Gewissensruhe und das öffentliche Vertrauen zu festigen.

Woldemar Eimbeck trug ihm dies Ansuchen äußerst beredt vor. Herr Melchers aber weigerte sich mit großer Bestimmtheit.

„Das Treiben der Blutrichter hat auch mir stark widerstrebt, sagte er traurig. „Ja, im vorigen Herbst, als der Herr Landgraf während der Stauffheimer Jagden zwei Tage hier war, hab’ ich’s sogar gewagt, ihm dieserhalb in schuldiger Ehrerbietung Bestellungen zu machen. Die Gewalt aber, die das Gesetz bricht, kann ich als Diener der Kirche unmöglich verherrlichen. Ich bin durchaus nicht so engherzig, über euch und euer Verfahren blindlings den Stab zu brechen. Nur verlangt nicht, daß ich es anpreise.

Woldemar Eimbeck zuckte die Achseln.

„Jeder nach seiner Art,“ wiederholte er leise. „Da hört Ihr’s, Ambrosius! Beinah’ hätt’ ich mir’s denken können.

„Hochwürdigster Herr“, sprach Doktor Ambrosius, „wenn Eure herzliebe Tochter Margret an Stelle Hildegards das Opfer der Blutrichter gewesen wäre, Ihr hättet vielleicht mehr Verständnis für die Handlungsweise des Mannes, der da nicht duldet und abwartet, sondern mutig zur That schreitet.

„Ich habe Verständnis dafür,“ sagte Herr Melchers. „Aber als Priester steh’ ich und falle ich mit dem Gesetz.“

„Erlaubt Ihr noch,“ fragte Woldemar Eimbeck zögernd, „daß wir nach dieser unwillkommenen Belästigung Eure Gemahlin und das Fräulein begrüßen?“

Statt aller Antwort führte Herr Melchers die beiden Männer ins Wohngemach, wo die schwarzäugige Margret mit bangem Herzklopfen dem Hall der Stimmen gelauscht hatte, die im Arbeitszimmer des Vaters so merkwürdig ernst durcheinander klangen.

Margret Melchers hatte sich während der letzten Zeit auffällig verändert. Sie schien bleich, zaghaft und tief nachdenklich. Das Unglück Hildegard Leutholds raubte ihr fast den Verstand, zumal sie im Anfang keineswegs von Hildegards Schuldlosigkeit überzeugt war. Seit dem Ausbruch der Rebellion hatte sie vollends keine ruhige Sekunde gehabt. Der Mann ihrer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_624.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)