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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

heimlichen Liebe stand ja leider Gottes mit an der Spitze des Aufruhrs. Die Sache, für die Woldemar Eimbeck stritt, mußte wohl selbstverständlicherweise edel und gut sein. Aber die ungeheure Gefahr! Und dann – wer sich so mit Gut und Blut dem Gemeinwesen widmete, konnte der noch was übrig haben für ein kleines unbedeutendes Mädchen, das nicht einmal mehr den Vorzug besaß, unterhaltsam und lustig zu sein?

Gleichzeitig mit Woldemar Eimbeck und Doktor Ambrosius trat von jenseit die Frau Pastorin über die Schwelle. Die frische, kernhafte Frau wußte bereits, daß sich die Aussichten der Rebellion gar nicht so ungünstig anließen, wie dies von einzelnen Schwarzsehern behauptet wurde. Und wenn selbst alles hier fehlschlug – Woldemar Eimbeck war schon der Mann danach, sich um seine persönliche Zukunft nicht weiter grämen zu müssen. Der fand überall ein gemachtes Nest – in Frankreich so gut wie in England oder Italien. Und daß sich die beiden, Woldemar Eimbeck und ihr niedliches Töchterlein, heiß lieb hatten, das war ihr längst klar wie das himmlische Sonnenlicht. Sie gab also dem Ratsbaumeister wie seinem Freunde Ambrosius ohne weiteres die Hand, hieß sie willkommen und tischte dann, unbekümmert um Gesetzmäßigkeit oder Nichtgesetzmäßigkeit, einen achtbaren Frühtrunk auf. Herr Melchers hatte sich gleich an der Thür wieder zurückgezogen. So saßen die Vier wohl zwanzig Minuten lang und schlürften das läßliche, rotbraune Glaustädter Bier und stießen hoffnungsfroh miteinander an auf allseitiges gutes Gelingen. Woldemar Eimbeck sagte noch nichts Entscheidendes. Zu einer förmlichen Werbung war ja der Augenblick nicht eben günstig. Aber die glutäugige kleine Margret verstand ihn. Als sich die Freunde erhoben – Woldemar Eimbeck, um sich mit Fridolin Geißmar zu treffen. Doktor Ambrosius, um nach dem Haus des Magisters Leuthold zu wandern – da hatten sich alle Trübseligkeiten im Herzen des glücklichen Mädchens vollständig aufgehellt. Fast noch eh’ sich die Thüre des Vorzimmers hinter den Männern geschlossen hatte, fiel Margret ihrer gerührt lächelnden Mutter stürmisch um den Hals und küßte sie leidenschaftlich.

30.

Der vierte Tag seit der Wegreise der Ratsabordnung begann sich zu neigen. Die Männer, die man beauftragt hatte, der Sache von Glaustädt vor dem Landgrafen das Wort zu reden und die Nichtswürdigkeit der bisherigen Zustände aufzudecken, wurden jetzt stündlich zurückerwartet.

Schon vorgestern hatte Rolf Weigel an Doktor Ambrosius eine Zuschrift gerichtet, die zwar noch nichts Endgültiges meldete, aber den Rat und die Bürgerschaft doch im wesentlichen beruhigte. Vorerst sei der Landgraf allerdings über die Maßen erzürnt gewesen und habe die Deputation überhaupt nicht anhören wollen, sondern Lust bezeigt, ohne weiteres die drei Delegierten als Aufrührer in Haft zu nehmen. Ein kurzes und sehr bestimmtes Gespräch aber zwischen Rolf Weigel und dem landgräflichen Hausminister von Gehlbrunn habe die Wirkung erzielt, daß Seine Durchlaucht sich anders besonnen und die Glaustädter Abgesandten in mehr als zweistündiger Audienz empfangen habe. Gleichzeitig müsse am landgräflichen Hofe – wie der Notar aus verschiedenen Aeußerungen des Herrn von Gehlbrunn schließe – eine geheimnisvolle, außerordentlich wichtige Botschaft angelangt sein, die von gewissen Machinationen einer benachbarten Regierung handle und dem Landgrafen den Wunsch einer raschen Verständigung mit den Glaustädtern nahe legen. Thatsache sei, daß seine Durchlaucht bei der Audienz zwar streng und gemessen, aber nicht ungnädig dreingeschaut und sich jeder Kritik des Vorgefallenen mit augenscheinlicher Absichtlichkeit enthalten habe.

„Das Protokoll über die peinliche Vernehmung des Balthasar Noß – das war der Schlußpassus des Weigelschen Briefes – „haben wir in den Händen des Landgrafen zurücklassen müssen. Noch an dem selbigen Abend erhielt ich vom Hausminister von Gehlbrunn die Mitteilung, Seine Durchlaucht verlange mit mir eingehend zu erörtern, was in dieser schwerwiegenden Angelegenheit zu geschehen habe. Zu diesem Behufe sei ich auf zehn Uhr früh in das landgräfliche Schloß bestellt. Ich hoffe zu Gott, daß alles in Frieden und Freundschaft sich abklären wird. Doktor Ambrosius setzte den Rat von dieser Zuschrift in Kenntnis und bald wußte ganz Glaustädt, wie es um die Sache der Deputation stand. Allgemeinste Genugthuung. Rolf Weigel war gewiß nicht der Mann danach, die Verhältnisse zu rosig zu schildern. Immerhin konnten sich unverhoffte Schwierigkeiten ergeben. Auch brannte man auf die Einzelheiten. So war es begreiflich, daß man der Rückkehr der Abgesandten mit wahrhaft stürmischer Unrast entgegenharrte. Etwa um Sechs, halb Sieben sollten die Herren durch das Gusecker Thor einfahren. Schon um Fünf staute sich dort jenseit der Stadtmauern eine geräuschvolle Menschenmenge. Die ganze Bevölkerung schien auf den Beinen. Immer weiter hinaus zog sich der buntwimmelnde Schwarm, getrieben von der wachsenden Ungeduld, möglichst frühzeitig den Liebling des öffentlichen Vertrauens, Herrn Rolf Weigel, zu bewillkommnen und von ihm selber zu hören, was er bei Seiner Durchlaucht dem Landgrafen ausgerichtet.

Wo die Gusecker Heerstraße in südöstlicher Richtung nach dem Pfarrdorfe Lützelheim abbog, da stand Doktor Ambrosius als einer der Vordersten und blickte hinaus über die gelbschimmernden Stoppelfelder, die sich hier mit ihren endlosen Reihen von hochaufgeschichteten Garben bis an den Rand des Gehölzes zogen. Er war ja fest davon überzeugt, daß die Gefahr einer feindseligen Auseinandersetzung mit der Regierung von Lich endgültig überwunden sei. Rolf Weigel hätte sonst längst Mittel und Wege gefunden, seinen Mitbürgern Nachricht zu geben. Trotzdem sehnte sich Doktor Ambrosius inbrünstig, wie kein anderer aus dieser ungeduldig harrenden Schar, nach der vollen Bestätigung seiner Zuversicht. Erst das amtliche Ja und Amen würde die letzte Bangigkeit seiner Seele hinwegnehmen. Es wäre doch gar zu trübselig gewesen, Hildegard und ihren Vater aus dem behaglich eingerichteten Heim in der Grossachstraße hinter die Stadtmauern oder nach Dernburg bringen zu müssen – jetzt, wo die Genesung der beiden so erfreuliche Fortschritte machte! Und hiervon abgesehen. Glaustädt, die teure Heimat, sollte nicht in das Unheil einer Fehde verstrickt werden, wo dies irgend vermeidbar schien!

Zum erstenmal seit der Niederwerfung der Blutrichter überkam ihn hier das Gefühl einer schweren Verantwortung. Aber da streifte sein Blick die Hochfläche des Böhlauer Triebes, wo man vor zwei oder drei Tagen erst den Scheiterhaufen hinweggeräumt hatte. Und Doktor Ambrosius schämte sich. Falls es denn wirklich zum äußersten käme – wohlauf in den Kampf! Kein feiges Bedauern, wenn die Verteidigung des Rechts und der Freiheit Opfer kostete! Und so lebhaft war jetzt in ihm der Haß wider die Knechtschaft erwacht, daß er für Augenblicke vergaß, wie fest er auf eine frohe, friedliche Wendung hoffte.

Endlich sah man am Ausgange des Dorfes hinter dem halbhohen Ellerngesträuch das Blinken und Blitzen eines zweispännigen Hofwagens. Die sinkende Sonne warf ihren goldigen Glast auf das welsche Kostüm des borten- und tressengeschmückten Kutschers, der mit unnachahmlicher Steifheit und Würde die breiten silberbeschlagenen Zügel hielt. Rechts und links hinter dem prunkhaft ausgestatteten Fuhrwerk sprengten als Ehrengeleite sechs landgräfliche Kürassiere in flammendem Brustharnisch. Besser konnte der Landgraf seiner Glaustädter Bürgerschaft nicht bekunden, daß er vollste Indemnität erteilte. Rolf Weigel mit seinem Adlerblick hatte den jungen Arzt schon von weitem erkannt. Freudestrahlend zog der Notar seinen breitkrempigen Hut, stellte sich auf und winkte dem Harrenden triumphierend zu.

Jetzt fuhr der Wagen im Schritt. Die Heerstraße stieg. Mit jeder Minute hörte man deutlicher das Knirschen und Stoßen der Räder. Auf der Höhe des Wegs angelangt, machte die landgräfliche Kutsche Halt. Rolf Weigel konnte sich’s nicht versagen, den Doktor Ambrosius, der dem Fuhrwerk noch eine ziemliche Strecke weit entgegengeeilt war und nun glühend vor Aufregung zum Schlage herantrat, mit ganz besonderer Feierlichkeit zu begrüßen. Er streckte ihm vor dem ungestüm herandrängenden Volk beide Hände entgegen und rief pathetisch:

„Ein frohes Glückauf dir und allen Freunden und Mitbürgern! Die Sache Glaustädts hat obgesiegt. Seine Durchlaucht waren die Gnade und Huld selbst. In weiser Erwägung der obwaltenden Umstände billigt der Landgraf nachträglich, was hier geschehen ist. Ja, Seine Durchlaucht sprechen sogar dem findigen Zunftobermeister Karl Wedekind ihren hochfürstlichen Dank aus, weil er – wenn auch mit etwas bedenklichen Mitteln – den Irrwahn zerstört hat, den arge Sophisten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_626.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)