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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

und üble Ränkeschmiede dem frommgläubigen Landesvater in tückischer Arglist um die wohlmeinende Seele gesponnen. Der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen, die Hauptstützen der Malefikantenverfolgung, sind ihres Amtes entsetzt. Weitere Entlassungen werden im Lauf dieser Tage folgen. Morgen bereits wird Seine Durchlaucht einen zu diesem Zweck eigens ernannten Regierungskommissarius nach Glaustädt senden, der in Gemeinschaft mit den Vertretern der Ratsversammlung alles Weitere erörtern soll. Der Landgraf will, daß man im ganzen Lande dem Hexenwahn eifrig entgegenwirkt. Lehrer und Geistliche sollen gehalten sein, ihr Augenmerk ganz besonders auf diesen Punkt zu richten. Auch will Seine Durchlaucht die Schriften des edlen Friedrich von Spee und anderer Feinde der Malefikantenverfolgung in zahllosen Exemplaren unter das Volk bringen.

„Gott sei gelobt!“ rief Doktor Ambrosius, als der Notar innehielt. „Das ist so ein ganzes Füllhorn glücklicher Botschaften! Wahrhaftig, Ihr habt da den großartigsten Sieg erfochten, den unser Glaustädt jemals erlebt hat!“

„Nicht ich, sondern die Wahrheit und die Vernunft haben den Sieg erfochten. Balthasar Noß wird nun zunächst wegen der schnöden Mißachtung unserer Protesturkunde, und zwar vom Hoftribunal zu Lich, prozessiert werden. Außerdem aber steht ihm wegen verschiedener sonstiger Uebelthaten die Anklage hier in Glaustädt bevor. Ich erzähl’ Euch das alles später. So lange Herr Noß allmächtig war, hat man geschwiegen. Jetzt hört diese Rücksicht auf – und da kommt der Zusammenbruch!“

Als Weigel geendigt hatte, schaffte der langverhaltene Jubel, der die stumm lauschenden Volksmassen bewegte, sich mit brausender Heftigkeit Luft. Aus dem Gewaltstreich der kühnen Rebellen würden also der Vaterstadt keinerlei Wirrnisse erwachsen! Man konnte jetzt seines Daseins wieder in Ruhe froh werden. Das war die Erkenntnis, die selbst die Aengstlichsten unwiderstehlich fortriß.

„Hoch lebe der Landgraf! Hoch lebe Herr Weigel, der Bürgermeister!“ scholl es vielhundertstimmig um den höfischen Prunkwagen herum. Die Kutschpferde schnaubten und stampften, der Grauschimmel eines der landgräflichen Kürassiere bäumte sich bei diesem unerwarteten, donnerähnlichen Lärm, der für Weigel eine Huldigung ersten Ranges bedeutete.

„Auf Wiedersehen!“ rief der Notar dem Doktor Ambrosius zu, als sich der Aufruhr dieser Begeisterung einigermaßen gelegt hatte. „Ich treff’ Euch im Rathaus!“

„Auf Wiedersehen!“ murmelten auch die zwei Patrizier, die sich bis jetzt im Bewußtsein, daß Rolf Weigels geistiger Ueberlegenheit in der That beinahe alles zu danken war, mit der Rolle schweigsamer Gefolgsmänner begnügt hatten.

Und so rollte der Hofwagen, von den sechs landgräflichen Kürassieren im blitzenden Harnisch begleitet, über die stiebende Heerstraße der abendlichtumfluteten Stadt zu.

31.

Dem Landgrafen Otto von Glaustädt-Lich war es mit seiner Umkehr und Reue tiefinnerlich Ernst. Nicht nur, daß er alles das ausführte, was er der Abordnung des Glaustädter Rates unter dem Eindruck der ersten Gemütsbewegung versprochen hatte, er suchte auch sonst eifrig dahin zu wirken, daß dem leider noch immer tiefwurzelnden Aberglauben auf allen Gebieten die Zufuhr abgeschnitten und Einsicht und Wissen von Jahr zu Jahr in weitere Kreise verpflanzt wurden. Das Andenken der zahlreichen Unglücklichen, die von dem Glaustädter Blutgerichte zum Tode verurteilt und exekutiert worden waren, befreite er durch ein Regierungsdekret ausdrücklich von dem darauf lastenden Makel und ordnete in allen Kirchen des Landes große Entsühnungsfeierlichkeiten und Büßungen an. Zum dauernden Zeichen der Volksreue ward noch vor Ende September in Glaustädt der Grundstein gelegt für die nachmals berühmt gewordene Glaustädter Christuskirche, mit deren Ausführung der schöpfungsmächtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck betraut wurde.

Der glorreiche Umschwung in der Landgrafschaft Glaustädt-Lich übte auf den Fürsten Maximilian von Dernburg eine tiefbedeutsame Wirkung aus. Der Fürst begeisterte sich so nachhaltig für seinen ehrlichen und charaktervollen Grenznachbarn, der da den Mut hatte, sofort nach erlangter Einsicht seine bisherigen Irrtümer frei zu bekennen, daß er, Maximilian, die traditionelle, vornehmlich von dem ausgezeichneten Rechtsgelehrten Herrn Theodor Welcker vertretene fürstlich Dernburgsche Hauspolitik über Bord warf und von jetzt ab jeden Anspruch auf das ehedem reichsunmittelbare Glaustädt aufgab. Beide Regenten traten mehr und mehr in persönlich freundschaftliche Beziehungen und ihre Länder galten von jetzt ab für die ausgesprochensten Hochburgen der Intelligenz und der Freiheit, während im übrigen Deutschland noch auf Jahre hinaus zur Schmach der Menschheit die entsetzlichen Holzstöße der Blutrichter fortloderten. –

Im Weinmonat, als an den Hängen der Gusecker Hügel die frohen Gesänge der Winzer und Winzerinnen erschollen, fand in dem lieben, traulichen Haus an der Grossachstraße die Hochzeit des Doktor Ambrosius und seiner jungblühenden Braut statt. Woldemar Eimbeck und die kleine schwarzlockige Margret Melchers waren schon etliche Wochen vorher zum Altar getreten und wohnten nun dieser Vermählungsfeier als junges Ehepaar bei. Hildegard Leuthold trug einen schweren, dichtwallenden Brautschleier, der so reich und kunstvoll mit Spätrosen und Myrten besteckt war, daß man das Fehlen der einst so üppigen lichtbraunen Zöpfe kaum noch bemerkte. Der wackere Magister hatte sich vollständig wieder erholt. In alter Kraft und Gesundheit brachte er mit goldfunkelndem Rheinwein den Trinkspruch aus auf das Glück und die Zukunft seiner herzlieben Kinder. Dann erhob der Bürgermeister von Glaustädt Rolf Weigel das Glas und feierte den glückstrahlenden Bräutigam als den ruhmgekrönten Befreier der Heimat. Woldemar Eimbeck, den Rolf Weigel bei diesem Anlaß miterwähnte, stellte bescheidentlich fest, daß der erste Gedanke einer Auflehnung wider die Mißwirtschaft der schändlichen Volkspeiniger allerdings in der Seele des Doktor Ambrosius aufgekeimt sei. Er selbst habe sich diesem zornsprühenden Freiheitsapostel nur angeschlossen wie der Aehrenleser dem Schnitter. Jetzt aber gelte sein Hochruf weder dem jungen Achilles, der die feindliche Zwingburg so kühn und heldenmütig erstürmt habe, noch dem vielgewandten Odysseus Rolf Weigel, dessen erprobte Staatsklugheit für die Bürger von Glaustädt wahrscheinlich noch mehr geleistet, sondern dem würdigen Brautvater, dem die allgütige Vorsehung nach so schmerzlichen Prüfungen nur noch heitere, sonnige Tage und die Erfüllung alles dessen bescheren möge, was er im tiefsten Grund seines Vaterherzens hoffe und wünsche.

Als Doktor Ambrosius zu vorgeschrittener Nachtstunde seine liebreizende Hildegard in das wohleingerichtete Heim an der Kirchgasse führte, wo sie nun schalten und walten sollte als seine treue, fürsorgliche Lebensgefährtin, da flüsterte sie im Ueberschwang ihres jungen Glücks: „Mir ist’s wie ein Traum! Noch glaub’ ich zuweilen das Aechzen der Thürangeln im Stockhaus zu hören, wo ich so trostlos war und so elend! Und jetzt …!“

Sie warf sich weinend an seine Brust. Er aber zog sie sanft über die Stubenschwelle. „Süßer Liebling! Laß die Vergangenheit ruh’n! Mit Gottes Hilfe haben wir über das Schicksal gesiegt. Nun bist du mein und ich halte dich fest und freue mich der entzückenden Gegenwart.“

„Ja, du hast recht!“ sagte sie, glücklich zu ihm aufschauend. „Und ich will das alles auch gern erduldet haben, weil es der Anlaß war, daß so viele aus Jammer und Qual befreit und gerettet wurden. Jetzt kein Wort mehr davon!“

Glutüberströmt schaute sie sich in dem trauten Gemach um, wo eine silberne Hängelampe ihr mildfreundliches Licht verstreute.

Als sie den Brautkranz mit leise bebender Hand aus dem Haar löste, brach sie von dem handbreiten Geflecht einen Zweig ab und legte ihn sorgfältig auf die buckelbeschlagene Eisentruhe neben dem Kachelofen.

„Das bringen wir morgen als Totengruß auf den Grabhügel der kleinen Elma,“ sprach sie bewegt. „Ich hab’ mir’s gelobt, wie uns der Priester den Segen gab.“

Doktor Ambrosius küßte ihr schweigend die Lippen. Vom Turm der Marienkirche schlug es halb Eins. Und über den Dächern und Giebeln des nächtlichen Häusermeeres stieg in gelbrotem Fackelscheine der herbstliche Mond herauf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_627.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)