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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Sichgehenlassen, ein solches Schwelgen in Jammerseligkeit! Daß ein Arzt so etwas gutheißen konnte! Anordnen noch geradezu! Wenn es nicht der alte Meinhardt gewesen wäre, der seinen despotischen Doktorkopf daraufgesetzt hatte – von einem andern hätte er sich in seinem eigenen Hause nicht dermaßen dreinreden lassen, das war gewiß! Freilich war ihm Hannas Verzweiflungsgesicht allgemach auf die Nerven gefallen. So lange diese Tote noch unbestattet war, hatte er, das fühlte er deutlich, keine Macht über seine Frau. Also abwarten. An diese Tage wollte er denken. Nur drei, aber was für welche! Und Nächte! Denn infolge all dieser schwächlichen Zugeständnisse hatte sich Hanna auch zu Beginn der Nacht nicht von der Toten weggerührt, hatte sich eingeschlossen und weder auf Bitten noch Zureden geantwortet. Erst als er ihr, in aller Schonung, aber doch unmißverständlich, durch die Thür hindurch erklärt hatte, er werde den Schlosser kommen lassen, da hatte sie aufgemacht. Aber er war vor dem Gesicht, mit dem sie ihm da plötzlich gegenüberstand, beinahe zurückgeprallt. – Erbarm’ dich doch, hatte sie gesagt, und das mit einer Stimme, die ihm förmlich Herzklopfen verursachte – erbarm’ dich noch die kurze Zeit, die sie über der Erde ist! Laß mich hier bei ihr. Quäle mich nicht, ich bitte dich sehr! – – Nun, so hatte er sich erbarmt, war schwach genug gewesen, stillschweigend seiner Wege zu gehen hatte noch das Begräbnis mit all seinen Aufregungen und Quälereien abgewartet. Aber es stand bombenfest bei ihm, daß von da an sein Regiment, das des gesunden Menschenverstandes, beginnen würde. Mit dem Schlüssel, den er in die Tasche steckte, hatte er seine Macht und seinen Hausherrenwillen wieder an sich genommen. – Er war dann auf einen sehr heftigen Auftritt gefaßt gewesen, hatte sich auf Schreien und Weinen eingerichtet, auf Festhaltenmüssen, auf gewaltsames Hinauftragen, auf Einsperren, auf Zwang im Sinne des Wortes. Er war zu dem allen entschlossen gewesen, um ein Ende zu machen und sich seine Machtstellung ein für allemal zu sichern. Aber – von dem allen keine Spur. Kampf nur in den Zügen des bleichen Gesichts. Schrecken, Abscheu, Angst, Starrheit. Und mit der Starrheit lautlose, wortlose Ergebung. Gehorsam! Wie er im Stillen verwundert war! Wie er sich dieses ersten Sieges freute! Wie er sie dafür liebte! Wie er sie dafür gern in die Arme genommen, mit Küssen bedeckt hätte! Wenn er nicht bange gewesen wäre, sie damit wieder aufzuschrecken. Einstweilen nahm er sich vor, Geduld mit ihr zu haben, froh zu sein, daß sie nun Tag für Tag da saß, in ihrem kleinen, reizenden Boudoir, zwischen all den Herrlichkeiten mit denen er es geschmückt hatte. Geduld! Ein schweres Stück Arbeit für ihn. Einen Tag, zwei Tage, das ging allenfalls. Aber auf Wochen! Schauderhaft! Er wollte es aber verrichten zur Belohnung, daß sie da nicht im Hause herumjammerte, daß sie nicht mehr vor ihm davonlief. Er wollte auch nicht murren, wenn es noch ein Weilchen dauerte, ehe in den stumpfen Blick dieser grauen Augen wieder Wärme kam.

Einen verteufelt schlechten Anfang hatte ihre Ehe genommen mit diesem Todesfall, mit dieser schweren Erschütterung!

Allerdings war ja die Katastrophe vorauszusehen gewesen. Der Doktor hatte ihn darauf vorbereitet, hatte ihm damals gleich aus der Hoffnungslosigkeit des Falles kein Hehl gemacht. Daß man Hanna die Wahrheit verschwieg, verstand sich von selbst. Mochte sie doch das Zusammenleben mit der anscheinend genesenden Mutter ungestört genießen, so lange als möglich. Vielleicht sogar, daß sich wirklich bei guter Pflege noch eine Art von Aufschub erreichen ließ, ein Stillstand des Leidens. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß sich eine plötzliche Befreiung von Sorgen und Not, ein plötzliches Glück, wenn nicht als Heilmittel, so doch als kräftig wirkendes Linderungsmittel erwiesen hätte. Der Doktor aber hatte den Kopf geschüttelt und ihm bedeutet, er möge dazuschauen, daß die arme Frau es noch erlebe, ihre Tochter gut versorgt und am Herzen eines liebevollen Mannes geborgen zu wissen. Der Bescheid war ihm damals höllisch in die Glieder gefahren. Denn ein dunkles Gefühl hatte ihm versichert, daß er Hanna ohne die Mutter nicht bekommen werde, daß auf diesen zwei Augen seine ganze Zukunftshoffnung stehe. War sie erst einmal sein, so sollte es ihm nicht darauf ankommen, mit allen Teufeln der Welt um die Erhaltung ihres Besitzes zu raufen! Nur so lange noch sollte das ärmliche Lichtchen dieses verbrauchten Lebens brennen, daß es ihm das glühend begehrte Mädchen in die Ehe hinein rette! – Sie hatte diese Mission erfüllt, die blasse Frau, und nach allen Kräften war er alsdann bemüht gewesen, ihr zum Dank dafür den Rest ihres Daseins zu vergolden. Er hatte sie auch wirklich gern gehabt. Allerdings hauptsächlich mit jener Erkenntlichkeit des Wohlthäters, der über die Thränen seiner Almosenempfänger in Rührung gerät. Er hatte sie gern gehabt als wirksame Vermittlerin zur Erlangung von Hannas Gunst. Mit dem Spürsinn des Liebenden hatte er nach Gelegenheiten gesucht, die Mutter zu erfreuen um den Dank dann von den Lippen der Tochter zu küssen. Das war nun vorbei.

Unklare Gefühle bekämpften sich in ihm. Herzliches Leidwesen um den Verlust der freundlichen Frau, die ihm so dankbar ergeben gewesen war. Eine noch verstohlen glimmende Freude über den von nun an ungeschmälerten Besitz der Geliebten. Betroffenheit, ungewohnte, verdrießliche Beklemmung angesichts dieses niedergebrochenen Steges, angesichts dieses Wassers, das noch immer zwischen ihnen rauschte. Die Sympathie der Verstorbenen für ihn hatte dieses rauschende Wasser überbrückt. War sie nicht immer noch viel zu früh davongegangen? Oder sollte er sich nicht vielleicht gefälligst schämen, daß er feige nach einem Brett suchte, anstatt einfach hineinzuspringen und hinüberzuschwimmen?

Wie kam ihm nur dieses dumme, vergleichende Bild? Es war doch sonst nicht Herrn Ludwigs Art, seinen sogenannten Gefühlen in poetischer Form Ausdruck zu geben. Das kam, weil er von dieser ungewohnten Uebung in Geduld schon bald im Begriff war, aus der Haut zu fahren! – Warum schwamm er denn nicht wirklich hinüber? Nahm sie sich? Uebrigens saß sie still auf ihrem anderen Ufer. Es sah nicht gerade danach aus, als ob sie weglaufen würde, wenn er daherkäme. Freilich auch nicht, als wenn sie ihm die Hand hinstrecken und an Land helfen würde. – Aber schließlich, sie mußte einsehen, daß nur der Lebende lebt daß man einen Schatten nicht zu Tisch laden darf. Lieber hätte ja die alte Frau noch dreißig Jahre lang als Dritte im Bunde da bei ihnen sitzen können! Aus der Freundin und Helferin, die sie ihm im Leben gewesen war, wurde sie im Tode sein bitterster Feind. Wahrhaftig, so war die Sache, wenn man sie sich bei Lichte betrachtete. Ein unverwundbarer Feind dazu. Denn er konnte ihm nicht zu Leibe, er konnte ihm nicht sein Haus verbieten, er konnte ihm nicht begreiflich machen: geh weg, setz’ dich nicht immer zwischen uns, ich ertrage das nicht!

Uebrigens. eigentliche Vorwürfe konnte er Hanna ja nicht machen. Seit jener großen Rede, die er ihr da unten an der verschlossenen Thür gehalten hatte, hatte er an ihrem Betragen nichts mehr aussetzen können. All diese Wochen hindurch nicht. Von der Mutter sprach sie keine Silbe mehr, als wenn er ihr auch das verboten hätte. Im Grunde war ihm das ganz recht. Mit dem ewigen Sprechen über den Verlust wurde die Sache nicht besser. Auch verdarb man sich die ganze Stimmung. Es wäre ihr nach einer Unterhaltung über die Verblichene womöglich wie eine Lästerung erschienen, wenn er gewagt hätte, von anderen Dingen anzufangen. Vorwürfe machte er ihr ja auch nicht. Fiel ihm nicht ein. Nicht einmal darüber, daß sie so totenstill herumging, als wenn sie selber auch schon gestorben wäre. Aber sie schien vergessen zu haben, daß sie seine Frau sei. Sie irrte sich denn doch, wenn sie glaubte, daß er es noch lange aushalte würde, in der Rolle eines Krankenwärters um sie herumzusitzen. Dazu hatte er sie nicht geheiratet. Nein, wahrhaftig nicht!

20.

Sie stand am Fenster ihres Zimmers und sah in den öden Garten hinunter, sah dem strömenden Regen zu, der in Bächen die Kieswege entlang rieselte, horchte auf den Novemberwind, der gegen die Scheibe pfiff, der die letzten gelben, von den Bäumen gerissenen Blätter in die Pfützen fegte.

Kein Nachher, Mutter!

Wurde es denn wirklich zum erstenmal Winter, seit sie tot war? – War es denn wirklich erst vier Monate her, daß sie da draußen auf dem Friedhof lag? – Vier Monate! Am Sonnabend siebzehn Wochen. Es mußte viel länger her sein. Es mußte

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