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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

den Augen suchend; dabei kam ihr aber auch der Traumvers wieder und das süße Träumen im Blick. Indem sie an den bunten Rücken der Bücher mit der streichelnden Hand entlang strich, summte sie gedankenlos vor sich hin, als wäre sie allein: „Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …“

Doktor Wild, der sie auch so gut kannte, – ihr Arzt seit der Kinderzeit – beobachtete sie heimlich, mit Vergnügen; er sah, wie sie träumte. Ihm kam auch schon die Lust, eine seiner üblichen Schnurren und Komödien zu spielen. Nicht zu ihr, sondern zu Rutenberg gewendet, warf er in seiner raschen Weise hin: „Ja, aber meine lieben Freunde, was hilft das? Es ist sehr zu fürchten, daß das Zauberfest heute abend etwas angespritzt wird –“

„Wieso angespritzt?“ fragt Lugau.

„Nu, ich meine, etwas getrübt; etwas ungemütlich. Denn die Depeschen im Abendblatt –“

Gertrud drehte sich zu ihm herum. „Was für Depeschen?“ fragte sie.

„Ist das Abendblatt schon da?“ fragte Schilcher.

„Allerdings“, sagte Wild und nickte sehr ernsthaft; „Ich hab's schon durchflogen.“ Er zuckte gegen Gertrud die Achseln, mitleidig: „Häßliche Depeschen! Störung des lieben Friedens; oder, um es mit einem kurzen Wort zu sagen: Krieg! – Ja, mein Herz, was hilft’s. Was man schon seit achtundsiebzig fürchtet, ist nun eingetroffen: die grande nation und das ‚heilige’ Rußland haben sich richtig verbündet und was sie von Deutschland verlangen, ist ein bißchen viel!“

Er wiederholte, da er das Mädchen langsam blaß werden sah: „ist ein bißchen viel!“

„Was verlangen sie denn?“ fragte Gertrud stockend.

„Die Herausgabe von Luxemburg, Livland, Kurland und auch Jütland –“

„Im Abendblatt?“ stammelte Gertrud.

Wild zuckte wieder die Achseln: „Ja!“

„Aber – – Aber das ist ja infam!“ rief das Mädchen aus.

„Was wollt’ es nicht!“ sagte Wild. „Freundlich ist es jedenfalls nicht.“

Sie sah den Doktor zaghaft an, nun ganz blaß geworden. „Und das alles können wir Deutschen natürlich nicht herausgeben?“

„Nein“, fiel er ihr ins Wort, sich scheinbar ereifernd, „nein, das können wir nicht! Luxemburg und Jütland, Livland und Kurland – das können wir nicht! Das ist ganz unmöglich!“

Gertrud blickte in ihrer Hilflosigkeit umher und sah, daß alle sonderbar heiter waren. „Worüber lächeln Sie?“ sagte sie zu Lugau.

Der Domänenrat rieb seine Hände. „Ueber die Andacht, meine liebe Gertrud, mit der Sie immer wieder auf Doktor Wilds Erfindungen eingehen. Und ein ganz klein bißchen auch über Ihren Lehrmeister in der Geographie!“

„Ah!“ rief das Mädchen, etwas verlegen. „Luxemburg und Jütland – richtig – das gehört uns gar nicht –“

„Und das andre auch nicht!“

Mit seinem ernsthaftesten Gesicht bemerkte Wild. „Fräulein Gertrud hatten ohne Zweifel in den Geographiestunden etwas Besseres zu thun …“

„Ich?“ fiel sie ihm ins Wort. „Was denken Sie!“ – Ihre rosigen Wangen wurden aber doch noch röter, ihr fiel ein, daß es wirklich schon damals anfing, das mit ihrem Arthur. In einer Geographiestunde, das wußte sie, hatte sie sich zuerst so recht an ihn festgedacht … „Immer haben der Herr Doktor solche Späße im Kopf!“ sagte sie geschwind, um die allgemeine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

„Was soll so ein alter Doktor sonst thun, meine liebe Gertrud?“ erwiderte Wild. „Wenn man nicht gesund genug ist, um so wie früher zu praktizieren, dann verfällt man auf Allotria. Spaß und Ernst – wie’s nun gerade kommt. Wie ein anständiger Mensch für alle Fälle zwei Krawatten im Frack hat – eine schwarze und eine weiße, so hat man auch Spaß und Gruft im Kopf! – – Wünsche also einen ungetrübten Abend, ohne Krieg wegen Jütland, und auf Wiedersehn!“

Er winkte Lugau, mit ihm zu gehen; in diesem Augenblick trat der alte Brink, der Diener, herein, um in seiner förmlichen Manier und mit seiner gedämpften Stimme zu melden, daß Fräulein Gertrud auf einen Augenblick zum Fräulein in die Küche kommen möchte. Das „Fräulein“ war die unverheiratete Schwester Rutenbergs, die seit dem Tode seiner Frau das Haus führte.

„Ah!“ sagte Wild, scheinbar sehr erstaunt. „Auch Fräulein Gertrud hat schon Wirtschaftssorgen!“

„O ja,“ entgegnete das Mädchen heiter, „auch mein Kopf kann schon mit Beidem aufwarten, mit Spaß und mit Ernst! – Auf Wiedersehn beim Whist!“ – Damit war sie schon draußen, dem alten Brink nach.

Wild folgte ihr mit den Augen. „Glückliches Geschöpf!“ murmelte er neidlos.

„Glücklicher Vater!“ setzte Lugau hinzu, mit einem kleinen Junggesellenneid; er hatte, wie Schilcher, nie geheiratet. Die Beiden grüßten und gingen.

Rutenberg, der heute vor Lebenslust strahlte – er gehörte zu den Leichtbewegten, „himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt –“ setzte sich auf einen der Spieltische. „Glücklicher Vater – o ja! – Aber das Buch hab’ ich noch immer nicht.“

„Schlechte Erziehung,“ sagte Schilcher trocken, der sich in seine Lieblingsecke gesetzt hatte.

„Natürlich,“ antwortete Rutenberg nur. – „Ich such’s also selber!“

Er trat an ein Büchergestell, aber mit einem vergnügt ratlosen Gesicht. „Gott mag wissen, wohin das Kind dieses Buch verkramt hat!“ – Er zog ein paar Bücher aus ihren Reihen hervor, schüttelte den Kopf, steckte sie wieder hin. Ebenso heiter wie zuvor wandte er sich dann wieder zu Schilcher und strahlte ihn mit den blauen Augen an, ohne zu sprechen.

„Was kuckst du so?“ fragte der in seiner Ecke.

Rutenberg lachte nur so vor Vergnügen – „Nimm ’ne Cigarre, Alter.“

Schilcher schüttelte den Kopf. „Warum ich so kucke? – Ich bin sehr fidel, Schilcher. – Das heißt, es geht mir gut. Ich beneide mich.“

„Habe nichts dagegen,“ murmelte der kleine Herr.

„Das Kind – – das Kind ist doch entzückend, Schilcher.“

„Hat das Buch verkramt.“

„Ist aber doch entzückend, Schilcher.“

Das gute Nußknackergesicht konnte sich nicht länger enthalten, mitvergnügt zu lächeln. „Meinetwegen!“ stieß er heraus.

„Und auch gut erzogen“ behauptete Rutenberg jetzt.

„Zu weich,“ sagte Schilcher.

„In der richtigen Freiheit, Alter, und darum so gut geraten.“

„Bringt dir aber das Buch nicht.“

„Der erste Ball!“ warf Rutenberg ein.

Schilcher mußte wieder lächeln. „Na ja, meinetwegen!“

Rutenberg, in seiner jugendlichen, glücklichen Unruhe, nahm wieder einen Band, betrachtete ihn, steckte ihn wieder hin. „Dieses verflixte Buch,“ sagte er mit einer Art von Genuß, „wird kein menschliches Auge jemals wiedersehn! – – Ja, was ich sagen wollte … Ich glaube wahrhaftig, Alter, ich war nie so glücklich. Hab’ heut’ nachmittag lange drüber nachgedacht, und mir ist so dankbar zu Mut. Was sich der Mensch wünschen kann, das hab’ ich – – nein, das zwar nicht: meine gute Frau ist fort. Aber es ist doch merkwürdig, was ich alles habe. Gute alte Freunde – eiserne Gesundheit – Freude an der Arbeit – ein schönes Vermögen, das ich mir selber geschaffen –“

„Und es wächst ja noch,“ bemerkte Schilcher.

„Thät nicht nötig, Alter. Aber meine brave Fabrik, die läßt sich ja nicht lumpen, will mich durchaus zum richtigen Millionär machen … Und meine gute Vaterstadt wächst auch und gedeiht, eine unserer hübschesten alten Städte, nicht? Gute, heitere Leute, nicht verschopenhauert, nicht weltwehkrank, thun das Ihre und leben gern! – – Ja und dann dieses Kind. Ihr so merkwürdig ähnlich, beinahe wie eine Fortsetzung meiner guten Frau –“

„Hat aber auch viel von dir,“ murmelte Schilcher. Rutenberg lächelte. „Das thut auch nichts, Alter! Mir deucht sogar, die Mischung ist gut! – Ein sehr liebes Kind, Schilcher.“

„Mein einziges; aber ein Prachtstück, so frisch, so gut, so drollig, so zärtlich – und poetisch auch – – na, kurz, diese Gertrud!“

Schilcher wollte nichts sagen, dieser redselige Rutenberg hatte ihn in eine Weichheit hineingeredet, die ihm beinahe

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