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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Russisch-Diad. Nächste Woche müssen wir dann auch endlich einmal die kleinen russischen Pastetchen versuchen, die vor der Suppe gegessen werden. Kolduny, wissen Sie. Und auch die neue Suppe, die provencialische, Bouillabaisse.

„Gott, gnä' Frau, mir wird schon wieder schwindlig!“

„Schwindlig darf uns nicht werden, sonst machen wir Dummheiten. Also zu morgen die türkischen Dolmas. Das griechische Backwerk setzen Sie aber heute noch an. Ich komme dann nachher auch hinunter.“

„Ja, bitte, gnä' Frau. Wenn gnä’ Frau dabei sind, ist mir lange nicht so angst vor die neuen Sachen. Und die Verantwortung ist auch nicht so groß.“

„Das glaub’ ich schon. Aber Sie haben sich wirklich sehr geschickt zu all den wunderlichen Dingen angestellt, Pauline. Ich muß Sie dafür loben. Nach und nach bilden wir uns zu einer Spezialität für die tollsten Nationalgerichte aus, und Sie werden noch eine Berühmtheit.“

„Das hätt’ ich dann gnä’ Frau zu danken.“

„Also bis nachher. In einer Stunde, oder in anderthalb sind Sie zurück; dann komme ich in die Küche.“

Paulinens Genialität hatte wirklich nichts zu wünschen übrig gelassen. Das neue Küchenrepertoire verfügte nach sechs Wochen bereits über eine Reihe der abenteuerlichsten Dinge, und das neugierige Studium der mit fremdländischen Namen gezierten Speisekarte, freilich zumeist das überraschende Gelingen der glücklich „modifizierten“ Nationalgerichte, übte häufig einen wohlthätigen Einfluß auf Ludwigs Laune aus. Daß seine Frau sich nun doch mit der Köchin in die Urheberschaft teilte, hatte er erst nach und nach erfahren und diese „Marotte“, da sie sich so augenscheinlich zu seinen Gunsten darthat, nachträglich gnädigst gestattet. Nur verbat er sich mit aller Strenge, daß sie ihm jemals mit erhitztem Gesicht oder sonst irgend der leisesten Spur ihrer untergeordneten Thätigkeit vor Augen käme. Er wolle eine elegante, schöne Frau und keinen Küchendragoner vorfinden, wenn er heimkäme!

Hanna lernte also, zur rechten Zeit von dem heißen Herde wegzubleiben um dem Vorwurf zu entgehen, sich „mutwillig“ die Haut verdorben zu haben. Vor groben, die Zartheit ihrer Hände angreifenden Arbeiten schützte sie Paulinens Wachsamkeit, die nach und nach eine kleine Schwärmerei für ihre Gnädige gefaßt hatte, in Uebereinstimmnug mit dem gesamten Personal, vom Herrn Kammerdiener abwärts bis zum Stallburschen, mit etwaiger Ausnahme vielleicht des ersten Hausmädchens, oder der Jungfer, wie sie sich lieber nennen hörte. Was sie unter einer „feinen“ Damen verstand, war Hanna nun einmal nicht, das war sicher. Dazu war sie viel zu selbständig. Sie zog sich allein an und aus, sie ließ sich nicht die Stiefel zuknöpfen, sie hängte ihre Kleider selbst in den Schrank und nähte sich selbst abgerissene Haken oder Borten an. Und was das schlimmste war: sie schnürte sich nicht. Aber auch kein bißchen! Das hatte Henriette denn doch noch bei keiner ihrer früheren Damen erlebt, und sie war immer nur in sehr feinen Häusern gewesen. Daß man ein Korsett an- und ablegte wie ein Leibchen ohne die Schnürung zu lösen, daß man am Mittag oder Abend dasselbe leichte Miederchen trug wie am Morgen beim Aufstehen, das war ihr doch noch nicht vorgekommen. An solchen Dingen zeigte es sich eben, was eine wirklich feine Dame war.

Für das Thema der Tischgespräche oben im altdeutschen Trinkstübchen war wohl gesorgt, so lange es sich um Essen und Trinken drehte. Denn voll Spannung und mit dem tiefen Verständnis des Kenners ließ sich Thomas Herkunft und Zusammensetzung der Neuheiten seiner Mittags- und Abendtafel erklären. Nicht selten gab er auch nach einer ersten Probe persönlich Befehl zu kleinen, verfeinernden Aenderungen, und Hanna that gut, sich diese dann sofort und genau zu notieren denn ein nicht buchstäblich ausgeführtes Kommando verursachte die ärgerlichsten Auftritte. Waren jedoch die Essensfragen, die freilich keine geringe Zeit in Anspruch nahmen, erledigt, die Kritik erfolgt, so sank die Unterhaltung der Eheleute alsbald in sich zusammen wie ein erlöschendes Feuerchen. Es gebrach Hanna durchaus an dem häufig so reizvoll wirkenden geselligen Talent, ein sacht schwirrendes, anspruchslos anregendes, liebenswürdig seichtes Gespräch zu führen, das über Pausen hinweghilft. Reden, nur um etwas zu sprechen, konnte sie nicht. Wenn sie nichts zu sagen wußte, war sie eben stumm. Nicht jeder ist imstande, jedem Gedanken sofort Ausdruck zu geben. Menschen, die sich verstehen, weil sie sich lieben, bedürfen auch nicht stets einer gesprochenen Unterhaltung, um sich mitteilsam zu fühlen. Wie gut wußte sie das aus den Zeiten des stummen Plauderns mit der Mutter. Wie sie da manch’ liebes Mal halbe, auch ganze Stunden lautlos einander gegenüber gesessen hatten, zwischen sich den Arbeitstisch, auf dem Hannas Gerätschaften ausgebreitet lagen, in ihrem Sessel die Kranke, langsam und leise mit den müden Fingern die lange Häkelnadel rührend, Masche auf, Masche ab an den Streifen der dunkelgrünen Fensterdecke, die niemals fertig werden sollte, auf der anderen Seite das Mädchen, eines seiner kleinen Kunstwerke unter den rastlosen Fingern. Wie oft hatten sie darüber gelacht, wenn nach langer Stummheit eines von ihnen den angesponnenen Gedankenfaden laut zu Ende dachte, mitten im Satz, nur gleichsam weitersprechend. Keine Sorge aber, daß etwa das andere nicht verstanden hätte! Sie waren ja nur scheinbar Zwei.

Jetzt waren sie ihrer Zwei in aller Wirklichkeit. Sie und ihr Mann hatten sich nichts zu sagen. Aber auch gar nichts. Die Oede völliger Seelenfremdheit dehnte sich zwischen ihnen, wuchs und wuchs. Und mit immer wachsender Pein schaute Hanna über diese starre, unfruchtbare Ebene hin. Mit welchen Zauberkünsten sollte sie sie urbar machen? Tagaus, tagein mühte sie sich vergebens, zergrübelte sich den Kopf um ein Plätzchen in der weiten Welt, wo sie gemeinsam, als Kameraden hätten hausen können. Es gab keins. Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Allenthalben redeten sie zweierlei Sprachen. Mitzuleben in seinem Beruf, was sie so herzlich ersehnt hatte, war ihr versagt geblieben. Von Geldgeschäften, vom Börsenspiel verstand sie nichts; es fehlte ihr jede Ader dafür. Freilich auch jedes Interesse, obwohl sie ihm das nicht eingestand. Trotz der immer wiederholten Erkundigungen, die sie sich abzwang, um ihm Teilnahme zu bezeigen, blieb ihr der Eingang in das Bereich seiner Thätigkeit verschlossen; stand sie vielmehr vor einer Wand ohne Thür.

Ihn hatte „die Drängelei und Fragerei“ schon bald belästigt und gelangweilt, und er hatte sie ersucht, „das ewige Gedruckse“ zu lassen. Im Hause wenigstens wolle er vor dem Geschäft Ruhe haben, auch solle sie ihre hübsche Nase nur aus seinen Angelegenheiten herauslassen, die ja doch nur böhmische Dörfer für sie wären. So schwieg sie denn ein für allemal von diesen Dingen, erleichtert und bedrückt zu gleicher Zeit.

Womit nur ihn unterhalten, wenn er heimkam, da sich nirgend ein gemeinschaftliches Interesse finden wollte? Die Musik war verbotenes Land. Seit jenem einen entscheidenden Gespräch war es über diese Frage zwischen ihnen stumm geblieben. Er nahm an, daß sie es sich habe gesagt sein lassen, und war zufrieden, daß sie nicht muckste. Der prachtvolle Konzertflügel drunten im Festsaal stand unter seiner kostbaren, gestickten Decke als schönes Schaustück da, der Soireen wartend, die „nach der Trauer“ wieder gegeben werden würden. Im verschlossen dunklen Terrassenzimmer träumte der verstummte alte „Klapperkasten“ von vergangnen, liedfrohen Zeiten. Hannas Lippen blieben geschlossen. Hannas Hände ruhten im Schoß oder bewegten langsam, gleichgültig irgend eine feine Stickerei, die keinen besonderen Zweck hatte, die niemand eigentlich brauchte, die auch übers Jahr noch früh genug fertig wurde. Womit ihn unterhalten?

Sie hatte es mit dem Vorlesen versucht. Nach Tische, nach dem schwarzen Kaffee, im Rauchzimmer, in der Fensternische. Zwei gleichgesinnte Menschen hätten da so behaglich zusammen sitzen und aller geschriebnen Herrlichkeiten froh werden können. Zuerst – wunderbar genug – fehlte es an der Hauptsache. In ihrem strahlend eleganten Zimmer gab es keinen eigentlichen Bücherschrank. Auf dem zierlichen Gestell, das vergoldete Säulchen schmückten, protzten nur einige Prachtbände in leuchtenden Farben, ein paar andere lagen in malerischem Kreuz und Quer „arrangiert“ auf dem Tischchen mit der grauen Marmorplatte – es war so kalt, das Tischchen. Man fror, wenn man den Arm darauf legte, aber eine Decke würde die kostbare Goldverzierung des Randes und der geschwungnen Füße verborgen haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_678.jpg&oldid=- (Version vom 22.12.2016)