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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

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Blätter und Blüten.

Nicolas Charrington, der „heilige Bierbrauer“. Nicolas Charringtons Vater war einer der reichsten Brauer im Londoner Ostend, dessen Plakate eins der beliebtesten Biere Englands in allen Wirtshäusern verkündeten und noch verkünden, und in dessen Taschen von den 1300 Millionen Mark, welche die englische Arbeiterwelt jahraus jahrein im Alkohol anlegen soll, ein anständiger Prozentsatz geflossen ist. Nicolas wuchs auf, studierte und trat ins Geschäft wie andere reiche junge Herren, bis ihm mit 20 Jahren die Predigten des Dissidentenpfarrers Lord Radstock und alsdann das Studium der Evangelien derart aufrüttelten, daß sein Geist eine ganz neue Richtung empfing. Mit aller Energie warf er sich alsbald auf die Aufgabe, ein „Seelenretter“ zu werden. Voll glühenden Eifers widmete er sich besonders den Armen des Ostends, und während er am Tage in seines Vaters Geschäft arbeitete, lehrte er abends und nachts die verwahrloste Jugend lesen in den so genannten Nachtschulen, die er mit gleichgesinnten Freunden gründete. Bald trat er auch in größeren Versammlungen auf und sein Kampf galt nun besonders dem Teufel des Alkohols. Der Gegensatz zwischen seinen Gesinnungen und dem Geschäft, in dem ihn der Wille seiner Familie festhielt, blieb ihm natürlich ebensowenig verborgen wie denen, die er zu „belehren“ unternahm, und die grellen Bierplakate mit seinem eigenen Namen, die er in allen Hotels, Theatern und Schenken sehen mußte, bereiteten ihm viel Schmerz und Beschämung. Ja, er erlebte es, daß ihm halbwüchsige Burschen abends vor den Lokalen, in denen er sprach, auflauerten, um dem heiligen Brauer die Lust am Belehren zu versalzen. Sein offener Mut, seine herzliche Freundlichkeit ließen ihn zwar selbst bei solchen Gelegenheiten mehr Triumphe als Beschämung erleben, aber der Vorwurf, ein Brauer zu sein, ließ ihm doch keine Ruhe, bis er mit 23 Jahren dem Geschäft und Vermögen seiner Familie den Rücken gewandt hatte, um ganz seinem neuen Berufe zu leben. Sein Kreuzzug gegen die Trunksucht wurde nun ebenso leidenschaftlich wie erfolgreich, obwohl es die Wirte nicht an Versuchen fehlen ließen, ihn in seinem Streben zu hindern. Alkohol und Sinnlosigkeit waren die Feinde, die Charrington besonders verfolgte, aber auch im allgemeinen ist er einer der größten Wohlthäter der Armen und Elenden Londons geworden. Die „Assembly Hall“, der örtliche Mittelpunkt der inneren Mission im Osten der Stadt, mit ihren Sälen, ihren Lese-, Speise- und Erholungsräumen für Arme, die „Children Hall“ für verwahrloste Kinder sind das Werk Charringtons. Das Liebesmahl, das am 9. November jedes Jahres vom Lord Mayor den Frierenden und Hungernden des Ostends gespendet wird, ist von ihm gestiftet, die Kolonisation der Armen, d. h. ihre kostenlose Beförderung nach Canada, wo vielen, die in London zu Grunde gegangen, eine zweite Existenz blüht, hat in ihm eine ihrer größten Stützen, und der Name des heiligen Brauers, einst ein Spottwort, ist heute bekannt und geliebt bei allen Armen der Sechsmillionenstadt.Bw.     


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Der Hecht in Heilbronn.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph H. Schuler in Heilbronn.

Der Hecht in Heilbronn. (mit Abbildung.) Dem Besucher des in mancher Hinsicht interessanten Rathauses in Heilbronn fällt bei Besichtigung des ersten Stockes mit seinem altertümlichen Gebälk über dem Eingang zum Rathaussaal ein Bild auf, das, auf einer mächtigen Holztafel gemalt, einen gewaltigen Hecht im Seewasser darstellt. Derselbe trägt um seinen Hals einen mit allerlei Zeichen versehenen Ring, und die auf der Tafel gleichfalls angebrachte Schrift lautet: „Ich bin der Fisch, Welcher in disen seh ist gethon worden von Friderico dem andern diß namens Regenten der Weldt im Jahr 1230 den 5ten Octob. Darunter stehen mit der Angabe: Renovirt 1812, folgende kunstlose Verse:

Schau bey Heilbronn mich recht versteh’
Im Weiher genannt Böckinger See
Der in sich hat am Wasser zwar
Sechs Morgen doch ohn all gfahr

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Welcher obn abzulassen ist

Was sich zu tragen hat zur Frist
Als man Tausend vier hunder Jahr
Und neuntzig sieben gezehlet wahr

Nach Christi unsers Heylands geburth

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Ein solcher Hecht drin gfangen wurdt

Der gestalt hie abgemahlet steht
In dieser größ ein Ring umb hett

Von Mös am Hals gewachsen ein
Starck unter den Floß Federn sein

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Mit griegischer Schrift so mann alda

Gegraben ein lautet also:

Ich bin der Fisch, welchen Kaiser Friedrich der andere mit seiner eigenen Hand in diesen See gesetzt den 5. Octobris im 1230. Jahre nach Geburt Christi.

Nun ist es merkwürdig, daß die erhaltenen Nachrichten über diesen Hecht, dessen Bildnis erst unter der hölzernen Brücke Heilbronns angebracht war, gänzlich Verschiedenes melden. Eine alte Heilbronner Chronik meldet: „Diesem Kaiser Friedrich (nämlich Friedrich II) hat der Rat zu Heilbronn außer andern Verehrungen einen Hecht verehrt, welchen der Kaiser selbst seiner Größe und Schöne halber zu einem sonderlichen Gedächtnis in den Böckinger See gesetzt, und diesem Hecht zuvor ein messingner kupferner Ring an die Ohren oder Glüsen machen lassen, daran mit griechischen Buchstaben geschrieben gewesen: ‚Ich bin der Fisch etc.‘ Dieser Hecht ist anno 1497 wiederum gefangen und Kaiser Maximilian I verehret worden, da er 267 Jahr im See geschwommen, und stehet eben dieser Hecht allhie zu Heilbronn unter dem Brückenthor abgemalt.“

Das liest sich so nun freilich ganz interessant, aber einmal war um die auf der Inschrift angegebene Zeit Friedrich II gar nicht in Heilbronn, sondern in Italien, und auch Kaiser Maximilian war nicht im Jahre 1497, sondern zwei Jahre früher, 1495 in Heilbronn. Und dann, in diesen 267 Jahren hat besagter Hecht doch auch noch an Umfang zugenommen, und da sollte ihm sein Halsband nicht zu eng geworden sein? Eine andere Erzählung berichtet, allerdings mit denselben Jahreszahlen, daß der Fisch in einem See bei Königslutter (im Braunschweigischen) gefangen und nach Heidelberg gebracht worden sei, wo der Ring in der kurfürstlichen Kunstkammer samt einer Tafel mit dem Fische aufbewahrt werde.

Wie nun diese Hechtsage entstanden, und welcher historische Kern in ihr liegt, das konnte bisher nicht festgestellt werden. Daß Hechte eine außerordentlich lange Lebensdauer besitzen, ist eine Thatsache; ob gerade der Heilbronner Hecht, dessen Bild übrigens heute noch merkwürdig frische Farben zeigt, über eine solche verfügte, weiß man nicht; als eine ehrwürdige Reliquie aus einer Zeitperiode, wo das ganze Wissen über Entwicklung und Leben der Tiere noch ein seltsames Gemengsel von Sage und Thatsache war, darf er jedenfalls beachtet werden. Th. E.     

Die Internationale Schlafwagengesellschaft. Was der vor kurzem verstorbene Pullman in Nordamerika für den Eisenbahnverkehr geschaffen hat, das leistet auf dem europäischen Kontinent die internationale Schlafwagengesellschaft. Im Jahre 1877 gegründet mit einer Betriebsthätigkeit von 9697 km, hat sie es bis Ende 1896 auf 88 407 km gebracht; ihre Wagen, jetzt 580 an der Zahl, sind auf fast allen wichtigeren Linien des Erdteils zu finden, und sie bieten dem Reisenden, der große Strecken hintereinander zurücklegen will, den denkbar größten Komfort. Nach amerikanischem Vorbild bezeichnet die Gesellschaft ihre Luxuszüge mit „Expreß“. Da ist ein Orientexpreß (Paris–Konstanza), ein Ostende–Wien-Expreß mit Anschluß nach Triest, ein Wien–Nizza-Expreß, dreimal wöchentlich im Winter verkehrend, ein Calais–Engadin–Interlaken-Expreß (nur im Sommer), ein Mittelmeerexpreß, von Calais aus abgelassen, ein Südexpreß zwischen Madrid, Sevilla und Gibraltar, ein Nordexpreß zwischen Ostende, Paris und Berlin und Petersburg, ein Peninsularsexpreß zwischen Calais und Brindisi, der wöchentlich einmal geht und ein Nord–Süd-Expreß zwischen Berlin und Verona, der ursprünglich bis Rom und Neapel geführt werden sollte, wird am 15. November d. J. mit täglichem Verkehr eingerichtet. Außer diesen Zügen bewirtschaftet die Gesellschaft auch Speisewagen auf verschiedenen Linien. – Trotzdem die Schlafwagengesellschaft überall auf fremden Linien fährt, hat sie doch im letzten Jahre einen Betriebsüberschuß von 4 316 855 Franken erzielt. In Preußen ist sie übrigens fast verdrängt, da der preußische Staat 22 Schlafwagenlinien, davon 14 ab Berlin, selbst betreibt. Auch die Österreichische Staatsbahn hat 5 Linien in eigene Verwaltung genommen.


Immortella. (Zu unserer Kunstbeilage.) Den symbolischen Blumenbildern Belladonna und Sonnenblume von Gabriel Max gesellt sich hier ein neues, voll zarter Lieblichkeit. Ist es wohl ein abgeschiedenes Seelchen, das der weinenden Mutter erscheint, bittend, sie möge seinen Grabesfrieden nicht durch ihren trostlosen Kummer stören? Der Künstler hat schon mehreren solchen Mahnungen aus dem Jenseits Gestalt verliehen, und so gehört „Immortella“ auch wohl in das Zwischenreich, das seine künstlerische Phantasie so lebhaft anzieht.


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Ehemaliger 28er Brigadier in Iserlohn. Sie befinden sich im Irrtum; Oberst von Cranach hat thatsächlich bei Vionville-Mars-la-Tour die Trümmer der 38. Brigade (Wedell) aus dem Feuer geführt. Nach dem Generalstabswerk, I. Band, Seite 604, bestand die 38. Brigade (Wedell) aus den Regimentern 57 und 16. Erst später kam das Regiment 57 in den Verband der 28. Brigade, der es noch heute angehört.


manicula      Hierzu Kunstbeilage XXIV: „Immortella.“ von Gabriel Max.

Inhalt: Einsam. Roman von O. Verbeck 14. Fortsetzung). S. 741. – Allerseelen. Bild. S. 741. – Katzenrassen. Von J. Bungartz. S. 746. Mit Abbildungen S. 745. – Ein guter Tropfen. Gedicht von Ernst Muellenbach. S. 748. Mit Bild S. 749. – Marthas Briefe an Maria. Ein Beitrag zur Frauenfrage. mitgeteilt von Paul Heyse. S. 748. – Das Kind. Roman von Adolf Wilbrandt (5. Fortsetzung). S. 751. – Herbst. Bild. S. 753. – Blätter und Blüten: Nicolas Charrington, der „heilige Bierbrauer“. S. 756. – Der Hecht in Heilbronn. Mit Abbildung. S. 756. – Die Internationale Schlafwagengesellschaft. S. 756. – Immortella. S. 756. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 756.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_756.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)