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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

war die Flut der Erinnerungen über sie hingestürzt, von brausenden Orgeltönen getragen, von singenden klingenden Menschenstimmen begleitet. Und nur die Angst, es möchte wieder über sie kommen wie einstmals, hatte sie zittern gemacht. Es war nicht über sie gekommen, und sie hatte zu zittern aufgehört. Sie war ruhig geworden. Sie war es auch jetzt. Die vielgeliebte Stimme aus der Tiefe, aus dem fremdgewordenen Damals that ihr heute kein Leid mehr an – Sie schloß das Notizbuch und legte es weg.

Zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen saß sie eine Zeit lang still, die Hände im Schoß gefaltet. Vor ihr, auf der geöffneten Schreibmappe, lag ein frisches Briefblatt. An den Pastor Erdmann wollte sie schreiben, ihm sagen, daß sie dann und wann zu ihm käme, endlich wieder einmal. Wollte sie? Mit gerunzelter Stirn schüttelte sie den Kopf und drückte die verschlungenen Finger fester zusammen, ohne sich von der Lehne wegzurühren. Spiegelfechtereien. Warum log sie sich das selber vor? Sie wußte ja, daß sie nicht schreiben würde, daß sie nicht zu ihm gehen würde, gar nicht mehr, überhaupt nicht mehr. Wann hatte sie ihn zuletzt gesehen? Wohl vor zwei Jahren? Vor länger als zwei Jahren. Noch ehe jener Schrecken über sie gekommen war. Der kalte, schmerzhafte Schrecken, daß dieser Bund, diese Ehe gesegnet sein sollte, daß ein lebendiges Zeugnis ihrer Erniedrigung aufwachsen sie mit Augen ansehen, mit vernehmlicher Stimme zu ihr sprechen sollte. Mit seinen Augen vielleicht, mit seiner Stimme, ein Abbild von ihm, eine Wiederholung von ihm. O Jammer, o Schmach und Scham! Aus dieser Ehe ein Kind! – – Wie lange währte wohl das Grauen damals, das sie ruhelos umtrieb? das ihr den Atem hemmte, den Mund austrocknete? – – Nicht gar lange, dünkte ihr jetzt. Nur, bis mit der Gewißheit ein Sturm, wie Frühlingswehen über ihre eingefrorene arme Seele kam. Ein Kind! Kein Zeuge meines Elends, ein Trost in meinem Elend! Nicht Schmach mehr, sondern Sühnung! Nicht Scham und Jammer, sondern Heilung, Glück! Ein Kind! Mein Kind! –

Hanna, in ihrem Sessel lehnend, zitterte am ganzen Leib; aus den geschlossenen Augen rannen Thränen über das blasse, schmale Gesicht. Wußte sie noch so gut die heilig süße Wonne jener Tage? – Ach, allzugut! Zum Nievergessen! Tief in ihrem Herzen, ungesehen, unlöschbar, brannte die kleine zehrende Flamme der Sehnsucht nach diesem kurzen Traum von Glück. – Und er? – Das war doch wohl Vaterfreude, die ihm aus den Augen sah, damals? die ihn sanfter machte? Es sollte also doch wohl noch gut werden mit ihnen beiden? Ein kleiner Cherub – man mußte ihm nur Zeit lassen – spann feine, lichte Fäden zwischen ihnen. Er küßte auch heimlich die Splitter des zerbrochenen Talismans, und siehe. – sie fügten sich zusammen, goldig im Frührot glänzend, von Tauperlen überschimmert, begann der neue Tag. – Er erlebte seinen Mittag nicht; überlebte kaum seine erste Stunde. Nebel krochen daher, kämpften mit dem hellen Freudenschein, drückten ihn nieder, fraßen ihn auf. Leiden, Leiden, Schmerzen, lange Finsternisse. Frost im Blütenbaum, Tod im Hoffnungsfrühlingl In grauer, kühler Dämmerung that der andere neue, der altgewohnte Tag die Augen auf.

Die wache Träumerin im Schreibtischsessel öffnete die brennenden Augen und starrte ins Leere. Der Doktor hatte gut reden gehabt mit seinen Tröstungen. Auf die gab sie nichts mehr, die kannte sie, diese barmherzigen ärztlichen Lügen. – Ob sie ihm etwas gegolten hatten, dem Mann, der mit düster funkelnden Augen damals am Fußende ihres Bettes stand und dem noch kein gutes, warmes Wort über die Lippen gegangen war, seit der Jammer sie gepackt und niedergeworfen hatte? Er grollte heftig mit ihr, die ihn um die schöne Hoffnung betrogen hatte.

Hanna war nun wieder ganz wach und richtete sich auf. Vor diesem Kapitel ihrer Erinnerungen schlug sie das Buch zu. In einem fröstelnden Schauer, der ihr über den Nacken hinunterlief, sah sie sich in ihrem Zimmer um, dessen bunte Stoffe und glänzende Goldverzierungen im Abenddämmer zu verschwimmen begannen. Noch lag das weiße Briefblatt auf der offenen Schreibmappe. Sie schob es weg. Nein. Nicht mehr schreiben. Nicht mehr hingehen. Sie hatte schon lange nichts mehr zu erzählen. Ein Tag glich dem andern, ein Monat, ein Jahr dem andern. Nur daß Schnee und Frühlingsblumen, Sonnenglut und Herbstnebel in ihnen wechselten – Um ihre schönen Reisen wurde sie viel beneidet. Sie hätte sie mit Freuden hingegeben für die sichere Gewähr eines stillen Plätzchens, wo sie allein gewesen wäre. Auf der ganzen weiten Welt wünschte sie sich nichts mehr als dieses stille, einsame Plätzchen. – Ja doch, es war schöner draußen, unterwegs. Die Sonne ging herrlicher auf im Hochgebirge als in Berlin. Ihr Scheiden am Abend, wenn der glühende Ball weit drüben, am Rande der Welt, im Meer versank, löste mit seinem über die Kräuselwellen hinschimmernden Gruß ihr gefesseltes Herz zu raschern Schlägen als daheim. – – Ihr Tagewerk blieb allerorten und vom Morgen bis zum Abend das gleiche: Verlernen, sie selbst zu sein. Sie hatte es in dieser Wissenschaft schon weiter gebracht, als es ihr anfangs möglich erschienen war. Ein frisches Zweiglein nach dem andern hatte die gefräßige Heckenschere abgestutzt. Mit der Zeit mochte aus dem lebenskräftigen, sonnenfrohen Baum noch die anständigste, glatteste, undurchsichtigste Pyramide werden, bei der kein Blättchen weiter hervorstand, als es der Gärtner erlaubte.

Ein solcher Baum erzählt nichts mehr, er verstummt. Seine starrgewordenen Zweige rauschen nicht mehr, seine Blätter, die ängstlich, dichtgedrängt beieinandersitzen – viele, viele mitten durchgeschnitten – verlernen selbst das Flüstern. Für den achtlos Vorübergehenden sieht so ein kunstgerecht verstümmeltes, unpersönliches Gewächs langweilig aus, für den Wachsamen, der davor stehen bleibt und mit warmen Augen in das reglose Blätterdickicht hineinschaut – unaussprechlich traurig.

Hanna Wasenius hatte schon recht gut gelernt zu schweigen. In ihrem stillgewordenen Gesicht stand nicht viel mehr zu lesen als die höfliche Antwort auf die Fragen des täglichen Lebens, als die Aufmerksamkeit auf das, was von ihr verlangt wurde, um das Wohlergehen und die gute Laune ihres Gebieters möglichst ungetrübt zu erhalten. Um ihr Pflichtversäumnisse vorzuwerfen, bedurfte es schon eines erklecklichen Aufwandes von galliger Stimmung, der dann freilich jedes Mittel recht war. Der große, anspruchsvolle Haushalt, in dem die Partei der Dienenden der der Herrschenden um mehr als das dreifache überlegen war, ging bis auf das kleinste Rädchen seines vielfältigen Getriebes in ungestörter Ordnung, eine Annehmlichkeit, die erst mit der Regentschaft der jungen Herrin begonnen hatte. Wirtschafterinnen sowohl wie andre Untergebene hatten bis dahin fleißig gewechselt, und länger als ein halbes Jahr hatte auch der hohe Lohn keinen Dienstboten unter Ludwigs launischem Scepter gehalten. „Die anständige Art, wie sie mit einem umgeht, und daß sie nie grob und nie ungerecht ist,“ erreichte jetzt, was dem Geld allein nicht hatte gelingen wollen. Sogar Henriette mit der feinen Herkunft hatte sich an ihre „unschicke“ Herrin gewöhnt, Pauline würde ihr das Gegenteil auch arg eingetränkt haben. Ihr aus Küchenfeuer gewobener Glorienschein halte sich zu einem wehmütigen Strahlenkranz ausgewachsen, aber mit anerkennenswerter Dankbarkeit teilte sie nach wie vor den Ruhm, den die auserlesenen und stets mit Ueberraschungen verbrämten Gastmähler des Hauses Thomas genossen, zwischen sich und ihrer lieben Gnädigen.

Ring auf Ring schloß das Werden und Vergehen der Jahre.

Das wehende Laub der kleinen Traueresche streichelte sacht das Grab der stillen Frau, deren blasser Schatten bis auf den Hauch der Erinnerung versunken schien. Der verschwiegene Winkel, in den er sich geflüchtet hatte, um von dort, durch den Klageruf unverlöschbarer Sehnsucht wachgehalten, aus großen schlaflosen Augen in das blühende Leben herüberzuschauen, war eng umhegt und so dicht übersponnen von dem zarten, aber unzerreißbaren Rankengeflecht des Stolzes und des festen Willens, daß keines Menschen Fuß mehr den Pfad dorthin gefunden hätte. Es suchte ihn freilich auch keiner. Außer ihrem Kind war niemand da, dem sie gefehlt hätte. Längst schon war jede Spur ihrer Anwesenheit im Hause verwischt,.Während der ersten Reise, die Thomas mit seiner Frau unternommen hatte, waren die Aufräumungsarbeiten besorgt worden. Ehe die Herrschaften zurückkehrten, müßte alles wieder in der früheren Ordnung sein, hatte Ludwigs Befehl gelautet. Hanna war ohne Ahnung, daß, während sie sich in Italien auf allerhöchsten Befehl erholte und sich genau nach Vorschrift „amüsierte“, in den Zimmern der Mutter die Scheuerfrauen wüteten und mit Besen und Putzlappen den letzten Hauch der armen Seele zum Fenster hinausjagten. August hatte mit äußerster Strenge die sorgfältige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 760. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_760.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)