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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

geblieben, was ihre einstige Schönheit und Großartigkeit der Gegenwart bezeugt. Gleich Rothenburg o. d. T. hat auch Stargard sich den alten Mauerkranz nicht nehmen lassen. Zwar sind die neuen Stadtteile an mancher Stelle über das beengende Steinkleid hinausgewachsen, aber nirgend sind die Mauern niedergelegt, sondern ziehen sich ununterbrochen, von Promenaden umgeben, rings um die Altstadt.

Ein Gang auf dem Glacis der alten Wallgräben bietet auf Schritt und Tritt interessante Bilder. Kleine Gärten und Parkanlagen füllen die Sohle des alten Wallgrabens und schmiegen sich an das altersgraue Gemäuer, das mit seinen Schießscharten, Streittürmen und Zinnenresten uns ernst und düster anschaut, wie in Trauer versunken darüber, daß nun der Holunder und Hagedorn wächst, wo einstens der trotzige Bürger stand, die gute Wehr in nerviger Faust. Eine lange Strecke bildet die Ihna den natürlichen Mauergraben und hält uns in respektvoller Entfernung von dem hohen Wehrgange, der dann bei der nächsten Biegung an das Mühlenthor herantritt.

Die Stelle vor dem Mühlenthor ist die schönste und interessanteste, die wir auf unserem Umgange passieren. Still und lauschig ist es hier unter den schattigen Bäumen, nur die Wasser zu unserer Linken plätschern und murmeln, als wollten sie uns erzählen von dem, was sich da einstens im Laufe langer Jahrhunderte abgespielt hat. Wie ein breitschulteriger Recke, dem kein Feind hat beikommen und das blanke Rüstzeug zerschlagen können, präsentiert sich das feste Mühlenthor mit seinem schönen Ornament auf der Stirnseite dem Beschauer. Es ist unstreitig der schönste Thorturm Pommerns und bis ins kleinste gut erhalten. Ueberhaupt ist es eine besondere Eigentümlichkeit der Stargards Befestigung, daß die alten Thortürme, außer dem Mühlenthor – noch das sogenannte „Rothe Meer“, der Weißkopf, der Eisturm (s.S. 766) und das Wallthor, völlig erhalten sind.

Nach beendetem Umgang treten wir durch die Turmhalle des Pyritzer Thores in das Städtchen und sind gleich mitten in der Altstadt. Welch ein Abstand zwischen diesem Stadtteile und dem Bahnhofsviertel! Dort der lebhaft pulsierende Strom des modernen Lebens, hier das stille, beschauliche Treiben eines Landstädtchens vor hundert Jahren. Auch auf dem großen, rechtwinkeligen Marktplatze ist eine Stimmung, die an die Scene vor dem Gasthof „Zum Löwen“ in Goethes „Hermann und Dorothea“ erinnert.

Etwas hinter die Häuserflucht zurückweichend, aber darum um so wirksamer, erhebt hier der mächtige Langbau des Rathauses seine hohe Giebelseite. Ueber dem Hauptportale prangt das Wappen der Stadt, ein rechtsgelehnter Schild mit einem gewellten Querbalken, daneben der springende Greif, das Wappentier der pommer'schen Herzöge, als Erinnerung an die treueste Ergebenheit der Stadt gegen ihre Herren aus dem alten Grafengeschlechte.

Wie billig überragt das Rathaus (s. S. 766) alle Gebäude am Platze. Aber es ist nicht einzig die Größe des Hauses, welche unsern Blick auf sich lenkt, es ist vor allem die seine architektonische Gliederung und das reiche Maßwerkornament der hochgiebeligen Front, die unsere Bewunderung erregen. Stargards Rathaus giebt uns mitsamt seinen beiden stattlichen Nachbarhäusern, der Ratsapotheke und dem Protzenschen Hause (s. das nebenstehende Bild), eine hohe Meinung von der Blüte, welche die ausgehende Gotik auch im Profanbau in Pommern erlangt hatte.

Zu unserer Rechten, etwas abseits vom eigentlichen Marktplatze, ragt die gewaltige Marienkirche, wie ein Bau von Riesenhänden geschaffen, zum Himmel empor. St. Marien ist Stargards Perle, ein in jeder Beziehung grandioser Bau, eine der größten und schönsten Kirchen der ganzen norddeutschen Tiefebene. Ihre Erbauer, das sieht man auf den ersten Blick, haben durch die ungeheuren Maße, die sie ihrem Werke verliehen, imponieren wollen. Und der müßte keinen Blick für die Größe menschlicher Leistungen haben, der sich durch dieses Riesengebäude nicht mit Staunen erfüllt sähe. Unsere Bewunderung wächst, wenn wir die Einzelheiten des Baues näher ins Auge fassen. Wir gewahren überall im Inneren wie im Aeußeren eine klare, übersichtliche Anordnung der Verhältnisse, eine nicht verschwenderische, aber auch nicht im entferntesten kärgliche Dekoration.

Dieselbe trägt besonders an der Turmfassade und dem Chorhause jenes zierliche, elegante Gepräge, das der älteren Gotik eigentümlich ist und sie aufs vorteilhafteste von der verschnörkelten, zopfigen Manier ihrer Ausgangsperiode unterscheidet. Von der trockenen Spießbürgerlichkeit, die den meisten großen Backsteinbauten bürgerlicher Herkunft in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_765.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)