Seite:Die Gartenlaube (1897) 778.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

ich ein sehr gemäßigter Mensch. Aber dies – warum bin ich auch hergekommen Ich hab's ja im voraus gewußt, daß ich das nicht aushalte.“

„Aber liebes Herz!“ sagte Helene, lauter als bisher. Düttilas wegen hatte sie so lange mit gedämpfter Stimme gesprochen. Durchläuchting war auch sofort ganz Ohr; er stemmte die Füßchen an und drückte den Kopf ins Genick.

„Mmmmma –“ sagte er, um doch auch ein Wort mitzureden. Er war übrigens satt, sonst hätte er sich doch nicht so ganz ruhig unterbrechen lassen.

Helene, der das Herz vor Mitleid brannte, gab ihrem geliebten Dütt nur schnell einen Kuß auf sein milchfeuchtes Mäulchen. Dann nahm sie ihn, Heidi nach einem mitleidsvoll verstehenden Blick auf die Freundin loslassend, unter den Achseln auf ihrem Schoß in die Höhe und stand auf.

„Jetzt geht mein Ditzidatzi aber in seine Hürde und spielt mit dem lieben Ele, ja? Guck', da ist er schon.“ Sie drückte ihm den rotgesattelten tuchenen Elefanten in den Arm. „Und mein Heidi baut einen gräßlich hohen Turm und dann wirft er ihn um – plautz! – und dann fällt Mama vor Schreck an die Wand.“

„Hm, aber ganz furchtbar toll mußt du hinfallen.“

„Ganz furchtbar toll,“ versicherte Helene.

Düttila, in sein Gehege gesetzt, erwischte seinen grauen Freund, dem er beizeiten die Stoßzähne ausgebrochen hatte, am Rüssel und schlenkerte ihn daran hin und her, hieb auch mit ihm auf den überpolsterten Hürdenzaun.

„Mmmmm! Bummmm!“

Die Mama, die noch neben ihm knieen geblieben war, nickte ihm mit zärtlichem Lächeln zu; sie schaute dann aber schüchtern forschend zu Hanna hinüber. Die hatte den Kopf schon wieder aufgerichtet. Nur der Blick der trocknen, aber heißen Augen war noch irgendwo anders. Erst als Helene sich auf ihrem niedrigen Stuhl dicht neben sie kauerte und begann, ihr die im Schoß ruhenden eiskalten Hände zu streicheln, kehrte er mit einem leichten Zucken der Lider aus der öden Ferne, in die er sich verloren hatte, zurück.

„Wenn du dich einmal ganz aussprächest,“ sagte Helene, liebreich zuredend. „Ich glaube, du vergrübelst dich zu sehr. Fürchte nicht, ich würde dich nicht verstehen – weil ich glücklich bin.“

Es war hauptsächlich der gute, warme Ton dieser gedämpften Stimme, der Hanna wohlthat und für den sie der Freundin zu danken suchte, indem sie die streichelnde Hand in ihrer festhielt.

‚Aussprechen‘, dachte sie dann. ‚Daß Gott erbarm! Und verstehen? Du kleines Ding. Wie ginge das wohl zu?‘

„Ich danke dir,“ sagte sie leise. Und um die Eifrige nicht zu kränken: „So eigentlich auszusprechen giebt es da nichts, siehst du. Das bißchen, was da ist, hab' ich dir ja vorhin schon in Musik gesetzt. –“ Als Helene schwieg und vor sich niedersah, fuhr sie lebhafter fort: „Fühl’ du nur recht dein Glück. Jeden Tag, jede Stunde! Vergiß es nie. Was auf der Welt kann dir ernstlich wehthun, wenn die Zwei da gesund sind!“

„Was auf der Welt?“ wiederholte Helene mit tiefem Erröten. „Wenn Otto mich nicht mehr lieb hätte – oder mir stürbe. Ihn hab' ich doch auch lieb.“

„Sogar sehr, wie mir scheint,“ sagte Hanna, ihr sacht über die glühende Wange streichend. „Aber doch nur auch. Zu oberst stehen doch die Kinder.“

Helene schwieg einige Sekunden lang, verwirrt, beklommen. Daun erhob sie ihre blauen, feuchtgewordenen, rührend jungen Augen.

„Das mußt du nicht sagen, nur auch. Er nimmt den Kindern nichts, und sie nehmen ihm nichts. Das ist zweierlei Liebe. Beide stark. Um beide kann man bluten. So lieb, wie ich ihn habe – auch ohne die Kinder wäre ich namenlos glücklich mit ihm geworden.“

„Namenlos glücklich,“ sprach Hanna leise nach.

Sie wandte dann den Kopf zur Seite, preßte die Lippen zusammen. Unaussprechbare Fragen brannten ihr qualvoll auf der Zunge. Unaussprechbar und unlösbar. Unlösbar vor diesem Forum wenigstens. Diese Frau liebte ja ihren Mann. Von dem, was sie von ihrem Mann trennte, ahnte sie nichts. Es wäre eine Roheit gewesen, ihr davon zu sprechen. Es war überhaupt unmöglich, davon zu sprechen. Zu wem denn?

„Namenlos glücklich,“ wiederholte sie noch einmal, langsam mit dem düstern Blick zu Helene zurückkehrend. „Aber wenn du ihn verlörest, so oder so, und hättest die Kinder noch, so hättest du das Liebste und Köstlichste doch behalten, scheint mir.“

„Wenn er mir stürbe, so wäre ein Stück von meinem Herzen ab, trotz der Kinder.“

„Aber ohne die Kinder wäre dann vielleicht dein Herz ganz tot. Sie hielten dich am Leben fest, um ihretwillen müßtest du es lieben. Das ist's ja, was ich meine, siehst du. Wer Kinder. hat, kann nie ganz unglücklich werden. Sie entschädigen für alles. Auch wenn sie Sorgen machen. Sorge und Angst, auch wirklicher Kummer, so denk' ich mir, vertiefen die Liebe nur. Ist es nicht so? Sag' doch!“

„Ganz gewiß,“ entgegnete Helene, „das glaub' ich auch. Obwohl ich bisher nicht das eine, nicht das andre von ihnen erfahren habe. Ich meine, weder Sorge, noch Kummer.“

Eine Pause trat ein. Hanna starrte vor sich hin. In ihre Augen kam wieder ein heißer Glanz.

„Kennst du das,“ fragte sie halblaut, „daß einem derselbe Traum immer wieder kommt? Nicht jede Nacht, aber oft?“

„Nein,“ entgegnete Helene, „das könnt' ich nicht sagen.“

„Aber ich. Mir träumt, ich höre – –“ sie hielt inne mühsam atmend – – „mir träumt, ich höre zum erstenmal das kleine, kleine Stimmchen. Und von dieser unsinnigen Freude wach' ich auf – –“

Helene hob sich auf ihrem niedrigen Sitz in die Kniee und umschlang die Freundin fest mit beiden Armen.

„Du Aermste,“ murmelte sie erschüttert. Mit der Befangenheit und Scheu des unerfahrenen Gesunden sah sie ihr in das blasse Leidensgesicht: „Du Aermste,“ wiederholte sie mit erstickter Stimme.

Ein dröhnendes Gepolter und Gekrache – Heidis Turmeinsturz – unterbrach die dumpfe Stille.

Hanna fuhr erschrocken zusammen, aber Helene, mitten aus ihrer Ergriffenheit heraus, war sofort bei der Sache. Mit einem kleinen Schrei fiel sie erst rücklings gegen ihre Stuhllehne und dann gar noch – mit einiger Vorsicht – ganz vom Stuhl herunter.

Jubelnd kam Heidi angestürzt, um seiner furchtbar toll erschrockenen Mama auf die Beine zu helfen. Düttila kreischte hinter seinem Zaun vor allgemeiner Wonne. Das Zimmer war im Nu ganz erfüllt von Lachen Schreien und Lebensfreude.

Ueber Hanna kam diese plötzlich hereinbrechende heitere Luft wie ein erlösender unwiderstehlicher Zauber, wie eine mitreißende Musik. Sie lachte hell auf, so herzlich, wie sie seit langer Zeit nicht mehr hatte lachen können.

„Reizend ist das,“ sagte sie zu Helene, die, „ganz kaputt von diesem gräßlichen Bums, mühsam wieder auf ihrem Stuhl gelandet war und sich nun das verwirrte Haar glattstrich.

„Nicht wahr?“ sagte sie strahlend und sehr beglückt, als sie in Hannas gänzlich verwandeltes Gesicht sah. „Wir können es. Sie nahm Heidi beim Kopf und drückte ihn an sich. „Sag' mir, Bubi, bist du nun nicht mehr dumm? Kennst du nun die Tante Hanna wieder?“

„Hm,“ machte er nickend. „Nu kenn’ ich ihr wieder.“

„Und krieg' ich denn nun auch einen lieben Kuß von dir?“ fragte Hanna, sich zu ihm neigend. „Ganz von selbst?“

Zutraulich hielt er jetzt sein Kußmäulchen hin, schlang auch kräftig die Arme um Hannas Nacken, als sie ihn auf den Schoß hob. Er hatte es dann aber doch ziemlich eilig, wieder zu seinen Spielsachen zu kommen. Helene war indessen auf einige Minuten mit Durchläuchting zwecks notwendiger Kammerverhandlungen im Schlafzimmer verschwunden.

„Weißt du, du könntest mir den Schnitt von Heidis Schürze geben,“ sagte Hanna, als Mutter und Kind zurückkamen. „Sie scheint mir höchst zweckmäßig. Ich brauche so etwas für eine ganze Reihe von kleinen Gesellen aus meiner Keller- und Dachstubenpraxis. Mit den Zurüstungen für Weihnachten kann man nicht früh genug anfangen.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 778. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_778.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)