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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

„Gern,“ sagte Helene, erfreut, daß Hanna sich wieder so hübsch beisammen hatte. „Du kannst ihn mitbekommen. ich hab' ihn hier in meiner Schneiderschieblade. Komm, wir setzen uns da an das Fenster.“ Und nach einem kleinen Zögern: „Ich hüte nämlich die Kinder immer selbst, sonst würde ich dich in das andere Zimmer führen. Aber zudem hat das Mädchen auch draußen zu thun mit Abwaschen –“

„Was auch ganz das Richtige ist,“ unterbrach Hanna. „Sie gehört zu ihren Kochtöpfen, du zu deinen Kindern. Sei unbesorgt, heute mach' ich dir keine Scene mehr.“

Helene, in der Furcht, durch ein wenn auch noch so gut gemeintes Wort zu verletzen streichelte die Freundin nur sacht an Wange und Kinn. Am Fenster saßen sie dann so, daß Helene den freien Blick auf das Schlachtfeld behielt. Ihre zärtlichen Augen wanderten fast beständig zwischen Hanna und den Kindern hin und her; die Näherei lag meistens im Schoß.

„Du hast wohl ganz viele Weihnachtstische zu bedenken?“

„O ja. Kinder giebt es dies Jahr einundvierzig.“

„Gott bewahre!“

„Nun, auf neunzehn Familien verteilt, ist es noch nicht einmal so arg. Freilich ungleich genug verteilt. Heidis Schürze wird mir bei neun oder zehn von meinen kleinen Spatzen zugute kommen.“

„Ich finde es so hübsch, wie du das alles machst und dir sorgfältig ausdenkst. Sie müssen dich ja schrecklich lieb haben deine armen Leute! Wenn ich nur mehr Zeit hätte, ich käme gar zu gern einmal mit auf so einen Besuch. Bringst du deine Weihnachtsbescherungen denn direkt in das Haus zu jedem einzelnen?“

„Nein, das wäre doch zu weitläufig. Ich habe mir von Ludwig ausgewirkt, daß sie einmal im Jahr zu mir, also in das Haus kommen dürfen. eben zu Weihnachten. Im Billardzimmer bescher’ ich ihnen. In dem Zimmer, in dem meine Mutter gestorben ist. Damit doch von Zeit zu Zeit etwas wie Liebe hineinkommt. Auch Freude, an der sie Freude gehabt hätte. Und Tannenduft, Weihnachtsduft, den sie so sehr liebte! Ich lasse den Baum immer noch ein paar Tage stehen, nachdem er geplündert worden ist. Und ich stecke Zweige in alle Gardinen und in jeden Winkel, hinter die Bilder und wo es nur irgend geht. Ein Weilchen bleibt der liebe Duft noch so haften – dann – –“

Mit heiser werdender Stimme brach sie ab. Auch Helene blieb stumm, sie beugte sich nur vor, um Hanna wieder zärtlich zu streicheln. Diesmal half kein Poltern über die Stille hinweg. Beide Kinder waren ausnahmsweise lautlos beschäftigt. Heidibubi hockte knieend vor seinem aufgeschlagenen Bilderbuch auf der Erde und betrachtete tiefsinnig den Wolf, der eine Chijäne hatte sein sollen, und Düttila bohrte seinen dicken, kleinen Zeigefinger so tief er konnte in das zackige Loch am Bauch seiner Gummimütze, der der große Bruder heute morgen die Quietschflöte ausgerissen hatte.

Hanna war es dann selbst, die der beklommenen Pause ein Ende machte. Sie zog die Uhr.

„In zehn Minuten etwa muß ich gehen.“

„O, wie schade. Es kann noch keine Stunde her sein, daß du gekommen bist. Ich wage freilich nicht, dir zuzureden; du bist ja nicht dein eigener Herr. Und Unpünktlichkeit verträgt kein Mann, auch meiner nicht! Aber Liebchen! Das versprich mir, daß du bald wiederkommst. Nicht erst nächstes Jahr.“

„So lange will ich gewiß nicht wieder warten, das kann ich dir ja wohl versprechen. Aber du mußt viel Nachsicht mit mir haben. Im Augenblick ist mir es ja, als käme ich gern bald wieder. Ich weiß aber nicht, wie lange das dauert. Als ich herkam, dacht’ ich. „Wäre es schon überstanden! Du bist mir nicht bös darum? Du verstehst’s?“

„Alles,“ sagte Helene weich. „Aber halte das Gefühl fest, das jetzt in dir ist. Es ist ganz gewiß gesund. Und – weißt du was? Nächste Woche schreib’ ich dir eine Zeile, um dich zu erinnern, und du antwortest mir dann: „Ja, morgen!“

Nächste Woche! Du lieber Gott! Für die nächsten fünf, sechs Wochen bin ich völlig dingfest gemacht und kann mich keinen Fußbreit selbständig rühren. Darum kam ich ja noch geschwind vorher zu dir. Uebermorgen kommen die Breslauer. Die Schwester meines Mannes, weißt du, mit beiden Töchtern und beiden Schwiegersöhnen, dem ganzen und dem halben. Das Brautpaar will die Ausstattung von A bis Z hier besorgen. Als wenn sie in Breslau auf dem Dorfe lebten. Natürlich muß Linchen auch mit dabei sein.“

„Das ist die Aelteste, schon Verheiratete?“

„Ja. Und da Linchen nicht ohne ihren Männe leben kann, kommt Männe auch mit. Der Schwiegervater und Chef hat ihn beurlaubt; ich glaube, er ist leicht zu entbehren. Seine Haupteigenschaft ist, daß er viel Geld in das Geschäft gebracht hat. Das giebt nun eine Zeit der Unruhe, der Regellosigkeit, der Abhetzung, vor der mir graut. Denn außer den Besorgungen, die endlos sein werden – Evchen ist schwer zu befriedigen – wird ein Amüsement das andere ablösen. Jeden Tag muß etwas ,los’ sein. Jeden Abend mehreres. Aus dem Theater in das Restaurant, aus dem Restaurant in das Cafe! Die halbe Nacht ist weg, ehe man sich umsieht. Morgens steht dann das Frühstück bis Elf auf dem Tisch. Tropfenweis kommen sie an, wie es ihnen paßt. Von Gemeinschaftlichkeit ist keine Rede. Ganz wie in einem Hotel. Und der eine trinkt Kaffee, der andere Kakao, der dritte Thee, der vierte Weinschokolade. Linchen frühstückt überhaupt im Bett. Der eine will die Eier hart, der andere weich. Der eine das Beefsteak durchgebraten, der andere blutig. Der eine ißt nur rohen Schinken, der andere nur gekochten. Wenn ich meine brave Pauline nicht hätte, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist, ich wüßte nicht, wie ich mich durchfinden sollte. Ich glaube, im stillen bekreuzigen sich alle meine Leute.“

„Ist denn dein Mann mit dieser Unruhe und diesem rücksichtslosen Getreibe einverstanden?“

„Ach, weißt du – es ist seine Familie, da ist man immer nachsichtig. Und ich klage ihm ja auch nicht. Und dann hat er gern recht viel vor. Immer etwas Neues. Freilich, wie er es jetzt machen wird, bei seinen Diätvorschriften? Er wird sich kaum halten lassen.“

„Einen schweren Stand wirst du haben.“

„Nu, es wird schon vorübergehen. Alles geht vorüber. Ich werde dir es melden, wenn die Heuschrecken weg sind. – Und jetzt ist es hohe Zeit für mich. Leb’ wohl!“

Sie stand auf.

„Also wirklich, auf baldiges Wiedersehen?“

„Ja doch, du Kind. – Ade, Heidi, mein Herzblatt. Einen Kuß. Noch einen. Zum Abschied gieb mir auch einmal den Paul auf den Arm. Komm, du entzückender Schatz!“

Sie küßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die schon wieder vom Schauen des Leides verdunkelt war. Das süße, warme Körperchen des kleinen Kindes an sich zu fühlen, that ihr wohl und weh zugleich.

„Wie unsinnig glücklich mußt du sein,“ sagte sie ganz leise, mit den Lippen die braunen Löckchen streifend, die traurigen Augen zu Helene erhoben.

Die atmete beklommen. Was durfte sie der Einsamen darauf antworten? Sie begann sich wahrhaftig vor diesen seelenkranken Blicken zu ängstigen. Düttila half ihr aus der Not. Er hatte genug von der Geschichte, er wollte zu Mama, er streckte sein Händchen aus und machte ein bedenkliches Schüppchen mit der kleinen Unterlippe.

„Komm, Dicker,“ sagte sie schnell, ihn zu sich nehmend. „Du wirst uns doch nicht zu guter Letzt noch etwas vorsingen? Das wäre!“

Sie setzte ihn aber geschwind in seine Hürde, denn Hanna war schon aus dem Zimmer. Jählings war die schmerzhafte Unruhe der Angst über sie gekommen, der Angst vor sich selber. Sie fühlte, ihre Fassung war wieder hin. Sie begriff nicht mehr, daß sie vorhin fröhlich hatte lachen können. Sie war aufs neue wund, über und über.

Ihr Abschied glich einer Flucht. Auf Helenens Ruf über das Treppengeländer hinunter: „Also bald wieder, du!“ antwortete sie nicht mehr.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 779. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_779.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)