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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Marthas Briefe an Maria.

Ein Beitrag zur Frauenfrage, mitgeteilt von Paul Heyse.

     (Schluß.)


Neunter Brief.

Am 18. Februar.     
O Dein prophetisches Gemüt! Wie muß ich mich vor Dir meiner Blindheit schämen, da Du über den Kanal hinüber das Unheil herankommen sahst, das meinem Auge unsichtbar blieb! Ich habe ein paar Tage gezaudert, ob ich Dich auch darin einweihen sollte, da es nicht meine Schuld zu beichten galt, sondern die eines guten, thörichten Menschen, der Dir fremd ist. Aber Du würdest dennoch merken, aus dem veränderten Ton meiner Briefe, daß etwas nicht in Ordnung sein müsse, und argwöhntest am Ende Schlimmeres, als sich in Wirklichkeit zugetragen hat.

Nein, Du Scharfsichtige, Deine Martha könnte Dir frei ins Auge blicken, wenn Du jetzt bei ihr einträtest. Nur traurig bin ich, daß die reinsten menschlichen Verhältnisse vor dem Unbestand alles Irdischen nicht sicher sind und, wer in einem festen Hause zu wohnen glaubt, über Nacht durch einen Erdstoß an die vulkanischen Elemente erinnert werden kann, die seinen harmlosen Frieden zu erschüttern suchen.

Ich will mich kurz fassen. Ich schreibe ja keinen Roman.

Also: in den vier Wochen seit meinem letzten Brief ging alles bei uns den gewohnten Gang. Auch Hellmuth äußerte oft seine Befriedigung, meine müßigen Stunden nun so ersprießlich ausgefüllt zu sehen. Er ließ sich sogar zuweilen aus meinem Heft ein und das andere Kapitel vorlesen und machte dazu sehr feine Anmerkungen. Auch er hat in seinen Universitätsjahren sich leidenschaftlich mit philosophischen Problemen herumgeschlagen, zuletzt aber war er beim Verzicht auf die Erkenntnis der tiefsten Welträtsel angelangt, beim sogenannten Agnosticismus. Immer wieder kam es zwischen ihm und Dimitri zur Debatte darüber, ob überhaupt eine Metaphysik möglich sei, da unser beschränktes Gehirn sich keine klare Vorstellung zu bilden vermöge von allem, was in das Gebiet des Unendlichen und Absoluten hinaufreiche. Dimitri will das berühmte Ignorabimus nicht gelten lassen. Er glaubt an eine unaufhaltsame Entwicklung des Menschengeistes bis zu dem Punkt, wo die letzten Schleier, die ihm das Wesen der Welt noch verhüllen, fallen würden. Ich saß bei diesen oft sehr hitzigen Disputen mit allen Ohren horchend dabei.

Und freute mich, wenn kluge Männer reden.
Daß ich verstehen kann, wie sie es meinen,

oder doch glaubte, es verstehen zu können. Und war stolz auf meinen Mann, der die geschickten logischen Fechterstreiche seines Gegners so gelassen zu parieren wußte.

Dabei konnte mir nicht entgehen, daß Dimitris Wesen sich veränderte. Er verlor seine Munterkeit, war reizbar und trübsinnig, und auch sein Aeußeres ließ darauf schließen, daß die Besserung seines Leidens nicht stetig fortschreite. Wenn wir ihn fragten, klagte er über nichts als über schlechten Schlaf. Hellmuth bestand darauf, daß er eine angefangene physiologische Abhandlung eine Weile liegen lassen sollte. Er versprach es, nach seiner gewohnten Art, seinem Arzt sich fügsam zu zeigen. Ich hatte ihn aber im Verdacht, daß er trotzdem rastlos fortarbeite.

Auch in unseren Lehrstunden war er nicht wie früher. Mitten in seinem Vortrag konnte er in ein seltsames Brüten versinken und zehn Minuten lang zu Boden starren oder, mit einer Schere oder einem Falzbein spielen, die auf dem Tische lagen. Es schien dann ein Alp auf seiner Brust zu lasten, den er endlich mit einem tiefen Seufzer abschüttelte, wenn ich mit einem Scherz ihn aus seinen Träumen weckte. Seine Hand, die er mir zum Abschied bot, war kalt und feucht. Er sah mich dann wohl mit einem langen Blicke an, wie wenn er im Grunde meiner Seele lesen wollte. Dann rüttelte er sich in die Höhe und stotterte. „Verzeihen Sie mir – mir ist heute – nicht ganz wohl. Ich will einen Dauerlauf machen. Vielleicht schlaf’ ich dann besser die nächste Nacht.“ Ueber all das machte ich mir anfangs keine Gedanken. Er war ja ein Nervenpatient, von dem man sich allerlei Wunderlichkeiten zu versehen hatte.

Eines Nachmittags aber – es war am letzten Dienstag – steigerte sich dieses krankhafte Wesen in ungewohntem Maße. Er kam wie sonst zu unserer Lektion, setzte sich, seinen langen weichen Bart mit den weißen Fingern kämmend – ich neckte ihn damit, daß seine ganze Philosophie wohl in diesem Barte stecken mochte, aus dem er sie herausstreicheln müsse, – er lächelte aber nicht zu meinem Scherz, sondern sprang wieder auf und trat ans Fenster, mit der Hand die leichtüberfrorenen Scheiben anstarrend. Draußen war nichts zu sehen, was sein Interesse hätte fesseln können. Ich wartete daher ein wenig ungeduldig, daß er sich zu mir umwenden und mich auffordern würde, das „Protokoll des letzten Vortrags“ vorzulesen. Er schien aber ganz zu vergessen, zu welchem Zweck er gekommen war.

Ich fragte ihn endlich, ob er sich zu angegriffen fühle, um heute in unserm Studium fortzufahren. Ob ich ihm ein Glas Wein oder sonst irgend eine Stärkung bringen sollte. Ob er wieder schlecht geschlafen habe.

Da sagte er, immer gegen das Fenster gekehrt. „Kann der schlecht schlafen, der gar nicht schläft? Wenn Sie mir eine Flasche echten alten Lethe vorsetzen könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Aber nein, auch der könnte mir nicht helfen, weil ich nicht von ihm trinken wollte.“

Nun erschrak ich in allem Ernst. In solchem Zustande hatte ich ihn nie gesehen.

„Lieber Freund,“ sagte ich, „wir werden heute nicht philosophieren, heute nicht und überhaupt nicht eher, als bis Sie diesen Rückfall überwunden haben. Sie müssen mit meinem Manne sprechen, dann aber auch wieder ganz folgsam werden. Denn daß es so nicht fortgehen kann, sehen Sie wohl selbst ein.“

„Ob ich es einsehe?“ sagte er dumpf. „O gewiß! Aber der alte Spinoza hat nicht recht: einsehn und wollen ist nicht ein und dasselbe. Denn von der Krankheit, die mich befallen hat, wie ich nur zu klar einsehe, will ich nicht genesen. Ohne sie weiterzuleben, wäre schlimmer, als daran zu sterben!“

Noch immer ging mir keine Ahnung auf.

„Kommen Sie,“ sagte ich. „Setzen Sie sich zu mir und lassen Sie uns vernünftig reden oder wenigstens einen von uns beiden, bis auch Sie wieder Vernunft annehmen. Es muß dem Lehrer doch schmeichelhaft sein, wenn seine Schülerin klüger geworden ist als er, wenn auch nur, so lange er krank ist. Und nun verlange ich, daß Sie mir genau sagen, wie Ihnen zu Mut ist, und sich von Ihrer Matuschka gehorsam bemuttern lassen.“

Da drehte er sich langsam um, heftete die Augen mit einem stieren Blick auf mich, daß mir angst und bange wurde, that ein paar Schritte zu mir hin und lag plötzlich zu meinen Füßen, meine Kniee umfassend, während er in ein konvulsivisches Schluchzen ausbrach.

Ich war so furchtbar erschüttert, daß ich zuerst mich kaum fassen und besinnen konnte, was dieser heftige Ausbruch bedeute. „Dimitri!“ hauchte ich nur, „was thun Sie? Stehen Sie auf! Sie sind außer sich! Wie können Sie – und was soll ich –“

Es war, als hörte er mich nicht, er blieb wohl fünf Minuten in dieser jammervollen Lage, stöhnend in dumpfen Schmerzenslauten, mehr wie ein verwundetes Tier als wie ein unseliger Mensch. Erst als ich die Umklammerung seiner Arme von mir zu lösen suchte und mit einem gewaltsamen Ruck mich vom Stuhl erhob, schien ihm die Besinnung zurückzukehren. Mühsam, wie an allen Gliedern zerschlagen, raffte er sich auf und stand, das Kinn tief auf die Brust gesenkt, mit herabhängenden Armen vor mir, wie ein armer Sünder, der sein Urteil erwartet.

Ich war so außer mir, daß ich vergebens nach Worten suchte. Als ich aber keine fand, hörte ich ihn plötzlich sagen:

„Sprechen Sie nicht, Frau Meta! Ich weiß alles, was Sie mir sagen könnten. Und ich – auch ich habe Ihnen alles gesagt. Weil ich fühle, daß ich kein Recht dazu hatte, daß ich mich in Ihren Augen entehrt habe, daß ich ein elender Mensch bin, ein jämmerlicher Schwächling, der die Liebe und Güte der edelsten Menschen verscherzt hat, darum muß ich mich selber richten und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_815.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)