Seite:Die Gartenlaube (1897) 855.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

langte sich der Romedi noch die Flasche mit dem Enzian aus dem Wandkasten und ließ es sich gehörig schmecken.

Nachdem er sich so gestärkt hatte, trieb es ihn, vor dem Schlafengehen noch einmal in der Werkstätte Nachschau zu halten. Er kletterte über eine leiterartige Stiege empor und öffnete die aus Brettern roh gezimmerte Thür, die zu seinem Heiligtum führte. Das kleine Gemach war nicht gemauert, sondern aus gesägten Balken aufgeführt, durch die der Wind, trotz der Moosverkleidung in den Ritzen und Spalten, reichlichen Zutritt hatte.

Es herrschte eine peinliche Ordnung in diesem primitiven Naturalienkabinett. Schränke mit Glasscheiben, andere, an denen die Thüren bloß aus grünem Wachstuch in Holzrahmen waren, zierten die Wände. Jeder einzelne Kasten war ein besonderer Stolz des Romedi. Nur schweren Herzens plünderte er den Inhalt seiner Sammlungen, wenn kauflustige Touristen zu ihm kamen und für die wertvollen Mineralien die blanken Gulden, Fünfer und Zehner in die Tasche des „Stoandlnarrs“ wandern ließen.

In einem der Balken kunstvoll eingekerbt, befand sich ein für das Auge des Unkundigen nicht zu unterscheidendes kleines Schubfach, das der Romedi nur seinen besonderen Günstlingen öffnete. Jetzt leuchtete er mit dem kärglichen Talglicht nach dem Balken, bohrte mit einer spitzen Ahle in das Holz und zog an derselben ein kleines Kästchen heraus. Es war völlig wie Hexerei anzusehen Er öffnete das Behältnis und weidete sich an der stattlichen Reihe von kunstvoll geschliffenen Granaten, Amethysten, Opalen und Lasursteinen, die er im Laufe der Jahre mühsam auf seinen einsamen Bergfahrten gesammelt, selbst bearbeitet und nur zum geringsten Teil verkauft hatte. Ein eigener Geiz war über den Romedi gekommen. Wenn er sich von einem der prachtvollen Steine trennen sollte, war es ihm stets, als ob man ihm etliche Tropfen seines Herzbluts abzapfen würde.

Auch einige im Schliff noch nicht vollendete Stücke befanden sich in der Sammlung, in der jeder kostbare Steinfund sofort aufbewahrt wurde. Früher war der Romedi nicht so mißtrauisch gewesen. Seitdem aber bei den wiederholten Besuchen von Fremden manchmal das und jenes wertvolle Stück von selbst „Füße gekriegt“ hatte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, ließ es sich der Romedi gesagt sein.

Er entnahm dem Kästchen einen Granaten, an dem sich noch mehrere rauhe Flächen zeigten, ging an die sinnreich eingerichtete und in ihren meisten Teilen von ihm selbst erfundene Schleifbank und zündete dort eine kleine Blendlaterne an. Dann wollte er durch einen Druck auf einen hölzernen Hebel die Wasserkraft in Bewegung setzen. Die Maschinerie versagte. Sollte das Gewitter an dem Einlauf des Baches etwas zerstört haben? Dem Romedi ließ es keine Ruhe. Er mochte sich hundertmal sagen, daß es ja morgen auch noch Zeit sei, zum Rechten zu sehen! Schlafen hätte er doch nicht können! Noch niemals war ihm seit dem Bau der Schleiferei eine solche Störung passiert.

Er löschte die Kerze aus, nahm die Blendlaterne und kletterte über die Stiege nieder in den Hausflur. Dann trat er ins Freie. Ein scharfer schneidiger Wind hatte sich im Nordosten erhoben und blies ihm gleich vor der Hausthür das Licht aus. Mit einem kräftigen Fluch ging er in die Küche und zündete die Laterne wieder an. Kaum war er zu dem Bachstall gekommen, dasselbe Manöver!

„Na, wart’, i werd’ dir helfen, Teufelswind überanand! knirschte der Romedi zwischen den Zähnen, tappte sich im Finstern in die Holzschupfe und holte einen großen „Kenten“, wie man die aus harzigem Tannen- und Fichtenholz verfertigten Kienfpanfackeln nennt. Der „Kenten“ fing bald Feuer. Der Romedi schwang ihn unterwegs in dem pfeifenden Wind über seinem Kopf im Kreise, um ihn vollends zum Brennen zu bringen.

In dem flackernden Licht stieg er rasch zu dem Wehr empor, das den heute ziemlich mächtig angeschwollenen Wildbach teilweise zu seiner Steinschleiferei lenkte und ihm den unbändigen Gesellen dienstbar machte.

An dem Wehr war nichts zu entdecken. Der Romedi leuchtete das tief gegrabene und mit Dielen-Eichenbrettern eingefaßte Bachbett entlang. Auch da nichts! Sollte ein Mutwilliger etwas an dem Hebelwerk zerstört haben? Aber auch an dem Hebelwerk, das die Wasserkraft seiner Werkstätte zuführte, bemerkte er bei oberflächlichem Zusehen nichts.

Da, was war das? Unter dem Schaufelrad ein dunkler Körper, der sich wie mit Gewalt hineingezwängt hatte! Der Romedi leuchtete zu und hätte im nächsten Augenblick mit einem lauten Aufschrei fast den Kienspan fallen lassen. Es war ein menschlicher Körper, der durch die Gewalt des Wassers herbeigeschwemmt worden und unter dem Rade stecken geblieben war. Der Romedi bekreuzte sich unwillkürlich, bohrte aber dann mit einem raschen Entschluß die Fackel zwischen zwei Schaufeln des Rades, die ziemlich eng aneinander schlossen, und sprang, wie er war, in das Bachbett. Das eiskalte Wasser reichte ihm bis über die Hüften. Mit schier übermenschlicher Anstrengung versuchte er, den Körper unter dem Rade hervorzubringen. Es gelang dem sonst äußerst kräftigen Burschen nicht.

Er kletterte wieder ans Ufer, lief ins Haus und weckte seinen Bruder. Beide arbeiteten mit vereinten Kräften gut eine halbe Stunde, bis es ihnen gelang, den Leichnam zu bergen. Der Tote kam mit dem Gesicht gegen den Boden zu liegen. Als man den schweren Körper umwendete und der Romedi ihm mit der Fackel ins Gesicht leuchtete, stieß er von neuem einen lauten Schrei aus … es war der Kurzweger, der Mann der Emerenz. (Fortsetzung folgt.) 0


Blätter und Blüten.

Der Kaisersaal des neuen Rathauses in Hamburg. (Zu dem Bilde S. 841) An einem stolzen Prunkbau mit reich ausgestatteten Innenräumen fehlte es bisher der alten Freien und Hansestadt ganz und gar. Ja, ihre Häupter waren geradezu in Verlegenheit, wenn einmal vornehmer Besuch sich einstellte, ob der Frage, wo er zu empfangen und zu bewirten sei. Um so freudiger preist jetzt der Hamburger begeistert sein neues am 26. Oktober eingeweihtes Rathaus, dessen Ansicht wir bereits im Jahrgang 1892, S. 317[WS 1], der „Gartenlaube“ gebracht haben. An den drei Wochentagen, an denen „Ein hoher Senat“ keine Sitzung hält, wird es von Tausenden und aber Tausenden durchwogt, die bewundernd Treppenhäuser und Hallen, Säle und Zimmer mit den auserwählten Schätzen einer geschmackvoll gediegenen Ausstattung und Einrichtung anstaunen. Mit gebührender Ehrfurcht wird die Ratsstube betrachtet, wo, falls es sich um Gnadengesuche handelt, selbst über Leben oder Tod entschieden werden kann, sowie der Sitzungssaal der 160köpfigen „Bürgerschaft“, die gleichberechtigt mit dem Senat, die höchsten Herrschergewalt des kaufmännischen Freistaates teilt. Zwischen diesen beiden Stätten der Gesetzgebung erstreckt sich im Hauptgeschoß eine stattliche Flucht von Beratungs- und Empfangszimmern. Selbst der eigentliche große „Festsaal“ hat einen Nützlichkeitszweck, denn dort werden in gemeinsamen Rat- und Bürgersitzungen die Beeidigungen neugekürter Senatoren vor sich gehen. – Den zweitgrößten Saal führen wir unsern Lesern heute im Bilde vor. Seinen Namen trägt er aus Anlaß des Umstandes, daß Kaiser Wilhelm II bei der Vorfeier zur Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals 1895 in ihm den Begrüßungskreis abhielt; denn schon damals konnte das erst teilweise fertiggestellte Rathaus nutzbar gemacht werden. Die in dem Kaisersaal ausgestellten Marmorbüsten Kaiser Wilhelms und seiner Paladine schenkten begüterte Handelsherren. Ueberhaupt verursachte der größte Teil der Kunstschätze der Rathauseinrichtung dem Staatssäckel keine Kosten; einzelne Bürger wie Vereinigungen aller Art widmeten wertvolle Gaben in Fülle. Der leitende Gedanke bei der Ausschmückung des Kaisersaales war, das Wiedererstehen des Deutschen Reiches sowie die Bedeutung deutscher Seemacht und deutschen Welthandels zu verbildlichen. Arthur Filger schuf die Gemälde. Das große Hauptbild an der gewölbten Decke bringt den Triumph der deutschen Flagge zur Anschauung: die Göttin des Glücks, in der Rechten das schwarz-welß-rote Banner, thront in einer von zwei Walrossen gezogenen Muschel umgeben von Putten mit den Geräten der Landwirtschaft, des Handels und des Städtebaues. Genien mit Friedenspalmen schweben voran, Nereiden mit Harfen und Tritonen mit Posaunen geleiten den Zug. Rechts und links vom Hauptbilde erscheinen die Göttinnen der Erdkunde und der Sternkunde, derjenigen Wissenschaften, auf denen das Seewesen vornehmlich beruht. Die Längswände weisen acht Schutzgöttinnen deutscher Seestädte auf. An den Kurzwänden treten namentlich Figurengruppen in hocherhabener Bildhauerarbeit von Börner, Hamburg heran; sie stellen alle Länder dar, mit denen Hamburg in überseeischen Handelsbeziehungen steht. Roter Marmor bekleidet den unteren Teil der Wände und faßt die Thür- und Fensteröffnungen ein. Die Thüren von Palisander und Ebenholz mit eingelegter Arbeit in Silber und Bronze legen für Hamburgs Kunsthandwerk ehrendes Zeugnis ab. Ueber der Hauptthür erinnert eine eherne Tafel an die erste Benutzung des Saales durch den Kaiser.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. S. 317 bezieht sich auf die Wochen-Ausgabe, in der bei WS u. a. im Jahrgang 1892 verwendeten Halbheftausgabe ist das die S. 307.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_855.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)