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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Lächeln. „Mir scheint, ich komme nach Hause. Wie hübsch sich das alles hier ausnimmt in dem sanften grünen Licht. Wie die Sonne durch die Blätter leuchtet. Die Weintrauben wachsen Ihnen im Herbst offenbar in die Stube hinein. Vorzüglich steht Ihr kleiner Schreibtisch da an dem anderen Fenster. Auch Vater Wasenius konnte keinen besseren Platz bekommen. Er beherrscht das ganze Zimmer. Nur das Klavier, dünkt mich, haben Sie nicht günstig aufgestellt. Da in der dunkeln Ecke, da sehen Sie ja nichts, und es singt sich auch nicht gut.

„Ich singe nicht mehr“, unterbrach sie ihn kurz, in gleichgültigem Ton. „Darum steht es da schön genug“.

„Sie haben einstweilen noch keine Freude daran?“

„Ueberhaupt nicht mehr. Die Stimme ist schon lange tot.“

„Scheintot, denk’ ich mir,“ sagte er herzlich. „Das kommt vor. Hat sie genug geschlafen, so wacht sie dann um so frischer auf. Sie sollten Günther einmal anklopfen lassen.

Hanna schloß die Hände fest um die Armlehnen ihres Sessels, drückte auch die Lippen zusammen. Anfangs hatte sie ihm zugehört, mehr dem Ton seiner Stimme lauschend, als auf die Worte achtend. Sie wunderte sich über den frischen, energischen Klang, erinnerte sich plötzlich vollkommen deutlich, daß es früher ein ganz anderer gewesen war, dasselbe Instrument wohl, aber mit Sordine gespielt, gedämpft, verschleiert. Die Bemerkung über ihr Klavier weckte sie dann völlig. Seinen Hinweis auf Günther beantwortete sie nicht.

„Ich bin so sehr gespannt auf Ihren Bericht,“ sagte sie nach einer kleinen Pause. „Dazu sind Sie doch hergekommen.“

Er lächelte.

„Dazu bin ich hergekommen,“ wiederholte er. „Das ist gewiß.“ – Langsam, Alter, ermahnte er sich innerlich. Diese Draufgänger-Diplomatie hätte Bruder Heinrich Ehre gemacht! – Und laut. „Mein Bericht läuft nicht davon, der ist Ihnen sicher. Sie müssen es aber einem alten Freund zu gute halten, wenn er sich nach einer so langen Abwesenheit ein bißchen bei Ihnen umschaut, auch ein paar neugierige Fragen thut. Zum Beispiel scheint mir, daß Sie hier bedenklich einsam wohnen. Das alte Haus mit seinem schäbigen bröckeligen Putz machte mir beim Näherkommen nicht gerade einen überwältigend gemütlichen Eindruck. So verlassen, so auffallend weitab von den übrigen, so tief im Garten. ‚Verwunschenes Schloß' wäre eine unerhörte Schmeichelei, ‚Räuberhöhle' vermutlich eine Beleidigung.

Hanna mußte lächeln.

„Ganz gewiß,“ sagte sie. „Keins von beiden trifft zu. Krügers möchten Ihnen das zweite sogar tüchtig übelnehmen. Es wohnt sich ganz gut in der alten Baracke.

„Aber ich mache mir Sorge um Ihre Sicherheit während der Nacht. Wenn ich ein Strolch wäre, diese Gelegenheit könnte mich mächtig reizen. Ein einziger Mann ist im Haus.“

„Zwei. Frau Krügers Bruder wohnt auch da. Er hausiert in seinem Boot flußauf und -ab mit Heringen und Bier und so weiter, abends kommt er heim.

„Gut, daß Sie wenigstens die beiden Köter haben. Nach dem leidenschaftlichen Mißtrauen zu schließen, mit dem sie mich begrüßt haben, rasen sie wohl die ganze Nacht wie weiland Gustav Freytags Bräuhahn und Speihahn mit wütendem Geheul ums Haus herum?“

„Nicht ganz so. Molly, der Spitz, hat die Außenwacht und macht nur Lärm, wenn es Zweck hat; er ist sehr klug. Packan schläft im Hause, auf dem Korridor, vor meiner Thür.

„Das ist recht,“ sagte Rettenbacher befriedigt. „Aber es ist nicht genug. Haben Sie auch menschlichen Zuspruch in der Nähe? Gesetzt, allein Sie würden krank – können Sie jemand rufen? Hört man Sie?“

„Von rechts und links. Bertha schläft in der Eckstube neben mir, dort nach vorn hinaus. Auf meiner anderen Seite ist Krügers Zimmer, wenn auch nicht durch eine Thür mit dem meinigen verbunden. Denn da beginnt der an die Vorderseite angebaute Flügel. Sie sehen, ich bin ganz umgeben von Schutz.

Rettenbacher nickte; er betrachtete sie einige Augenblicke sinnend.

„Bekommen Sie denn auch etwas zu essen?“ fragte er dann. „Jeden Tag,“ versicherte Hanna, wieder unwillkürlich lächelnd.

„Das wäre schon anzuerkennen. Aber aus was für Bestandteilen ist es zusammengesetzt und wie ist es zubereitet?“

„Gott, das ist ja ganz gleichgültig. Ich schmecke kaum hin. Anfangs kochte Bertha für mich in meiner Küche, dann merkte ich, daß die Mutter sie schlecht entbehren konnte, und so gab ich mich gegen ein Bestimmtes in Pension bei ihnen und esse, was sie mir geben.“

„Das dacht' ich mir,“ sagte Rettenbacher. „Die Mahlzeiten kann ich mir vorstellen.“

„Im Ernst, sie sind ganz gut. Für meine Ansprüche jedenfalls gut genug. Frau Krüger ist ja eine anständige Frau, die nicht daran denkt, mich auszunutzen und außerdem war sie in ihrer Jugend Köchin.“

„Versteh’ schon. Huster ist gegen sie ein armer kleiner Waisenknabe.“

„Lassen Sie ’s gut sein, ich bin recht zufrieden mit meinem einfachen Essen. Die kostbaren und feinen Speisen hab’ ich bis zum Widerwillen kennen gelernt. Reden wir doch von etwas anderem! Zum Beispiel –“

„Zum Beispiel,“ unterbrach sie Rettenbacher, „wie lange Sie hier noch bleiben werden?“

„O für immer,“ antwortete Hanna verwirrt, mit einem unsicheren Blick in seine ernsthaft fragenden Augen.

„Für immer,“ wiederholte er. „Das ist ein Wort, das man im allgemeinen – in dieser Anwendung – nur von Kindern hört, die nicht wissen, was es bedeutet, oder von ganz alten Leuten, die wissen, daß diese Frist für sie nur karg bemessen ist. Und als sie schwieg, wieder mit demselben undurchdringlichen, stillen Gesicht, das ihn gleich zu Anfang so bedrückt hatte. „Sie haben also den bestimmten Vorsatz, hier noch zwanzig, dreißig, möglichenfalls vierzig Jahre auszuhalten?“

„Hoffentlich so lange nicht, hoffentlich viel kürzer,“ sagte sie tonlos.

„Es könnten aber sogar auch fünfzig Jahre daraus werden. Sehen Sie, davor schaudern Sie schon jetzt.“ Er lächelte, mit einem eigenen Schimmer, der langsam, wie eine warme Flamme, sein ganzes Gesicht erhellte. „Im übrigen ist mir gar so bange nicht um dieses ‚Immer'. So lange halten Sie es nämlich hier nicht aus. Vielmehr Hanna Wasenius hält es mit Ihnen nicht aus.“

„Was wissen Sie von der?“ sagte Hanna finster. „Die ist lange weg.“

„Was ich von der weiß? Das fragen Sie? Das ist kurios. Aber ich will Ihnen die kuriose Frage sogar beantworten. Ich weiß von ihr, daß sie es auf die Dauer nicht erträgt, nur für sich selbst und nur mit sich selbst zu leben. Ich weiß von ihr, daß sie kein Ichmensch ist, sondern daß sie andere braucht, um das eigentliche Wesen ihrer Natur auf sie auszustrahlen, daß sie nur glücklich ist, wenn man sie unbedingt nötig hat, und kreuzunglücklich, wenn sie sich entbehrlich findet. Und sie wäre weg? Das weiß ich schon wieder besser. Verkrochen hat sie sich, ins Dickicht geflüchtet mit ihren Wunden, wie die armen Rehe thun, wenn sie krank geschossen sind. Aber eines Tages wird sie wieder ans Licht kommen, heil und frohäugig, und wird singen mit der alten lieben Stimme, und wird sagen: So, da bin ich wieder, nun gebt mir etwas zu thun. – Glauben Sie nicht? Ich glaube fest daran.“

„Ich nicht,“ sagte Hanna trostlos, „ich nicht. Lassen Sie das sein, ich bitte Sie herzlich. Mit mir ist's aus. Sie wissen das nicht; woher sollten Sie es auch wissen. Wir sind zu lange auseinander gewesen. Sie kennen mich nicht mehr. All dies quält mich unbeschreiblich. Thun Sie mir die Liebe und sprechen Sie von anderen Dingen. Bitte, bitte. Erzählen Sie mir von Ihren Erlebnissen, ja? An denen will ich mich freuen.“

Rettenbacher schwieg. Er sah sie auch jetzt nicht an. In tiefem Sinnen, den Kopf geneigt, schaute er vor sich hin.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_860.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)