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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Ueber „traumatische Neurose“.

Ein medizinischer Beitrag zur Arbeiterunfallfrage.
Von Prof. Dr. Fürbringer in Berlin.

Der Leser der „Gartenlaube“ muß schon freundlichst entschuldigen, daß die berechtigte Herrschaft sprachreinigender Bestrebungen mich nicht abgehalten hat, ihm als Titel zwei der medizinischen Fachwissenschaft entnommene Fremdwörter zu bieten. Der Grund liegt in der Thatsache, daß heutzutage die beiden Wörter als Sammelbegriff auch praktisch wichtiger Leiden dem Laien, ja bereits dem minder gebildeten Publikum in ungeahnter Weise geläufig geworden sind, fast geläufiger als die etwas schleppende Umschreibung in deutscher Sprache. Auch hat die „traumatische Neurose“ als Name, seitdem ihn ein hervorragender Berliner Nervenarzt vor nahezu einem Jahrzehnt eingeführt, seine Herrschaft behauptet, ungeachtet der mit starken Gründen gestützten Bedenken dieses oder jenes Gelehrten, ungeachtet des offenen Ausspruches sachverständiger Forscher, daß die Bezeichnung nicht minder Unheil als Nutzen gestiftet habe.

Unter „Neurose“ verstehen wir eine Erkrankung des Nervensystems, für welche greifbare anatomische Grundlagen nicht nachweisbar sind. Es fehlt also der Begriff der organischen Krankheit; die fehlerhaft funktionierende Nervensubstanz zeigt, sei es Gehirn, sei es Rückenmark, seien es die Nervenstränge, für unser jetziges Auge keine Aenderung im Bau. „Traumatisch“ leitet sich von „Trauma“, die Verletzung, ab. Somit würde unsere Titelbezeichnung ins Deutsche übersetzt etwa lauten: Mit Verletzungen des Körpers ursächlich zusammenhängendes Nervenleiden, welches gleichwohl der groben materiellen Verletzung des Nervensystems entbehrt. –

Ein Teil unserer Leser weiß, daß der überraschende Aufschwung, den die Erörterung des eben definierten Krankheitszustandes in neuerer Zeit genommen hat, in denjenigen Verletzungen wurzelt, welche im modernen Versicherungswesen als Unfälle eine hervorragende Rolle spielen. Doch haben keineswegs alle Unfallsneurosen, die für uns in Betracht kommen, mit der behördlichen Fürsorge für den verletzten Arbeiter zu thun. Denjenigen Fällen, welche dem Arzt ohne jeden Anspruch an den Staat entgegen treten, zahlen wir noch eine ganz stattliche Summe.

Wir sind, um es gleich hier auszusprechen weit entfernt davon, auf eine Erörterung der wirtschaftlichen Streitfrage näher einzugehen, die sich aus unserer Nervenkrankheit, wie sie nach Unfällen auftritt, ergeben. Vielmehr werden wir, der freundlichen Anregung der Redaktion der „Gartenlaube“ folgend, im wesentlichen nur eine populäre Darstellung des Nervenleidens an sich zu geben bemüht sein. Freilich glauben wir, nachdem gerade die Forschungen der Neuzeit unsere einschlägigen Kenntnisse vertieft haben, der Frage nach der innern Ursache, nach dem eigentlichen Wesen der traumatischen Neurose uns ebensowenig entziehen zu sollen wie einer knappen historischen Zeichnung der ganzen Entwicklung der Lehre. Man urteile selbst, ob solche Zuthat geboten!

Um nun mit einer allgemeinen Skizze des Krankheitsbildes zu beginnen, meinen wir, einer langatmigen Herzählung der Symptome zunächst die Schilderung eines Falles vorziehen zu sollen. Er ist geflissentlich schematisch gehalten.

Ein vordem im wesentlichen gesunder, robuster, solider, in den dreißiger Jahren stehender Lokomotivführer schlägt, während seine Maschine in voller Fahrt an einem die Bahngeleise querenden Lastwagen entgleist, im Sturz mit dem Hinterkopf und Rücken auf den Bahndamm. Der Verunglückte wird bewußtlos, an allen Gliedern gelähmt angetroffen. Nach etwa einer Stunde erholt er sich einigermaßen vom „Schock“, von der Gehirnerschütterung, vermag sogar einen Wagen zu besteigen. Von nichtigen Abschürfungen abgesehen entdeckt der Arzt keinerlei äußere Folgen des Unfalls. Nach etwa einer Woche fühlt sich der aus der Behandlung Entlassene so wohl, daß er seinen Dienst wieder aufzunehmen versucht. Es gelingt ihm auch, die erste Fahrt zu überwinden, aber nicht gut. Schwindel und Rückenschmerzen stören ihn. Beide Beschwerden treten wieder zurück, allein sie wollen nicht schwinden. Es vergehen Wochen, Monate, ohne daß sich die frühere Leistungsfähigkeit wieder einstellt. Der vordem so diensteifrige Beamte sieht sich arbeitsunfähig, krank, konsultiert aufs neue den Arzt.

Ein ganzes Heer von Beschwerden bekommt dieser nunmehr zu hören Ich leide schwer; mich quälen vor allem anhaltende und heftige Schmerzen im Rücken, gerade an der Stelle, auf welche ich gefallen bin. Bei jeder Bewegung steigern sie sich, bei Anstrengungen werden sie unerträglich. Ich muß mir den Rücken halten, mich anlehnen, wo es nur angeht, um den Schmerz zu milden. Aber auch der Kopf thut mir weh; ich leide an Schwindel, Augenflimmern, kann nicht scharf mehr sehen, die Ohren klingen mir, und mit dem Gehör will es auch nicht mehr so recht gehen. Weiter fühle ich mich im ganzen Körper matt und müde, zerschlagen und zittrig; die Schwäche ist so groß, daß sich nicht selten Ohnmachten melden. Meine Glieder sind steif und wie gelähmt. Der Schlaf ist miserabel. Ich bin erregbar und reizbar wie nie zuvor, unlustig zu jeder Arbeit, trüb gestimmt und energielos, ängstlich und schreckhaft. Meine Familie und meine Freunde schelten mich, daß ich anders geworden, nicht mehr mit ihnen heiter verkehren kann. Meist habe ich keinen andern Wunsch, als nicht inkommodiert zu werden. Selbst das Sprechen fällt mir schwer. Endlich schmeckt mir auch das Essen nicht mehr und ich kann hartnäckiger Verstopfung nicht Herr werden.

Diesen zahlreichen subjektiven Klagen gegenüber vermag der Arzt durch seine Untersuchung nicht eben viel Objektives festzustellen. Im Gegenteil überrascht die geringe Ausbeute an solchen Symptomen, welche dem Begriff des Subjektiven ohne weiteres entrückt sind. Andre Erscheinungen stehen auf der Grenze. Daß eine mehr als oberflächliche und flüchtige hypochondrisch-melancholische Verstimmung den Kranken beherrscht, entnimmt selbst der Ungeübte dem ständig trüben, stumpfen und düstern Gesichtsausdruck. Weiter fällt auf, daß der Patient langsam und gemessen spricht, mitten im Satze Pause macht, offenbar den Faden verliert und die Worte mühsam wieder zusammensucht. Auch der Gang trägt den Charakter des Müden und Trägen, des Steifen und Unrüstigen; schon einige Promenaden im Zimmer, welche unser Kranker, die Hand auf dem Rücken ausführt, ermatten ihn sichtlich. Hiermit steht im Einklang eine allgemeine Muskelschwäche. Diese kontrastiert mit dem guten Ernährungszustande der Muskeln, deren Volumen ungeachtet der sonstigen Abmagerung des Kranken so gut wie keine Abnahme erfahren hat. Hin und wieder erleiden Muskelbündel schnelle Zusammenziehungen: Zuckungen; die ganze Muskulatur erweist sich bei passiven Bewegungen der Glieder, zumal der unteren Extremitäten, als leicht gespannt und steif; trotz dieser Störungen und des nicht geringen Grades der lähmungsartigen Schwäche ergiebt die Reizung der Muskeln mit dem elektrischen Strom keine von der Norm wesentlich abweichenden Resultate, ein Zeichen, daß das Rückenmark unsres Lokomotivführers durch die beim Unfall erlittene Erschütterung eine anatomische Entartung nicht davongetragen hat. Gleichwohl kann es sich im Bereich der beim Sturz am meisten betroffenen Stelle nicht völlig normal verhalten, denn der Kranke empfindet, sobald sie der Arzt beim Beklopfen des Rückgrats unter die Finger bekommt, heftige, von lebhaftester Reaktion begleitete Schmerzen. Aber auch die Haut in der Umgebung und hinab bis zu den Schenkeln zeigt sich äußerst empfindlich, sodaß selbst einfaches Berühren zur Pein wird. Dabei entspricht – eine einzelne wichtige, gleichfalls ein materielles Leiden des Centralnervensystems ausschließende Erscheinung – der Verbreitungsbezirk dieser Ueberempfindlichkeit keineswegs jenen der sensibeln, d. i. das Gefühl vermittelnden Nerven. Und was noch wunderbarer: der Kranke weist in der Nachbarschaft dieser Hautdistrikte und entfernt von diesen solche auf, welche im geraden Gegensatz zu ihnen ihre Empfindung verloren haben. Kneifen, Stechen, Brennen fühlt er hier wenig oder gar nicht. Im übrigen weisen seine Reflexbewegungen auf Hautreize keine sonderliche Abweichung auf. Wird aber mit dem Finger oder einem Hämmerchen dicht unterhalb der Kniescheibe, da wo eine breite, kurze, kräftige Sehne sich an dieselbe anheftet, geklopft, so erfolgt nicht, wie unter gesunden Verhältnissen, eine flüchtige, leichte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_862.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)