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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

irgend einem derselben an sich eine charakteristische Bedeutung beizumessen. Das Bezeichnende liegt vielmehr in dem eigentümlichen Zusammenwirken der Beschwerden und sonstigen Abweichungen vom Begriffe der normalen Funktion.

Sollte unsere Krankheit wirklich ein modernes Nervenleiden darstellen, das die an Unfällen ärmere und der gegenwärtigen Unfallsgesetzgebung bare Vergangenheit nicht gekannt hat? Mit nichten! Aufmerksamen und denkenden Aerzten sind schon vor Jahrzehnten nicht die Grundzüge des Krankheitsbildes verborgen geblieben, das wir gezeichnet, nicht ihr Zusammenhang mit Unglücksfällen, welche mit dem Begriffe des „Schocks“ zu thun haben. Und seit der findige Geist der Menschen Eisenbahnen und mit ihnen den Eisenbahnunfall als unvermeidliches soziales Unglück geschaffen hat, waren seine gelegentlichen Folgezustände weder den Experten noch Laien unbekannt, man nannte sie in England Railway-spine (Eisenbahnrückenmark), um damit den Zusammenhang dieser Rückenmarkserkrankung mit den Eisenbahnen kurz anzudeuten. Freilich hat die Verbindlichkeit der Eisenbahngesellschaften bei Betriebsunglücksfällen in hohem Maße fördernd gewirkt. So hat man gerade in England bereits vor mehr als dreißig Jahren über namhafte Sammlungen einschlägiger Fälle verfügen können, deren Eigenart wenigstens in einem Teil derselben an dem Ursprung aus einfacher Eisenbahnerschütterung ohne materielle Schädigung des Nervensystems nicht zweifeln lassen kann. Etwa ein Jahrzehnt später finden wir, um nur einzelne Hauptetappen im historischen Ueberblick dem Leser vorzuführen, wie das unserer traumatischen Neurose der Hauptsache nach entsprechende Leiden von unsern hervorragendsten Nervenärzten lehrbuchmäßig behandelt wird. Unter dem Titel der Erschütterung des Rückenmarks, des „Schocks“ durch Fall, Stoß auf der Eisenbahn und bei Nachtreisen im Wagen, durch Blitzschlag und heftigen Schreck haben sie uns treffliche Beschreibungen unseres Leidens vorgeführt. Schon damals ist mit aller Schärfe die schwere Störung der Funktion des Rückenmarks ohne gleichzeitig nachweisbare materielle Veränderungen in demselben in den Vordergrund gerückt worden. Aber noch mehr: wir vermissen nicht einmal die Skizzierung bestimmter Hauptgruppen, unter denen es nicht schwer fällt, die heutige traumatische Neurose innerhalb enger Grenzen wiederzuerkennen. Ja, die Kategorie des Beginns mit schweren Symptomen und des daran anschließenden langen, trotzdem meist der Heilung zugänglichen Leidens, sowie jene des Beginns mit sehr unbedeutenden Symptomen und späterer Entwicklung eines fortschreitenden schweren Nervenleidens mit zweifelhaftem Ausgang usw. Der in der Folge, zumal von Irrenärzten immer zwingender geführte Nachweis, daß psychische Störungen und krankhafte Erscheinungen, die nur aus dem Gehirn kommen konnten, mit die wichtigsten Symptome der Krankheit ausmachten, mußte notwendig die Alleinherrschaft des Dogmas vom Sitze des Leidens im Rückenmark stürzen. In der That vollzog sich denn auch mancherorts die Umtaufe des Railway-spine in eine Railway-brain (Gehirnleiden infolge eines Eisenbahnunfalles). Aber nicht genug damit: von Frankreich her, aus dem Schoße der berühmten Pariser neurologischen Schule, drang vor etwa zehn Jahren mit Erfolg die überzeugungs- und verdienstvolle Belehrung, daß unsere Krankheit mit der Hysterie wichtige Grundzüge teile und insbesondere die Art der Gefühlsstörungen und etwaigen Krampfanfälle eine scharfe Trennung von den hysterischen nicht zulasse. Zugleich vermochte man an der Hand der Krankenbeobachtung und von Experimenten, bei welchen Hypnose und Selbstsuggestion eine Rolle spielten, die Ueberzeugung zu begründen, daß es mit der ursächlichen mechanischen Gewalteinwirkung durch das Trauma keineswegs immer gethan sei, vielmehr auch die seelische Erregung – sei es beim Unfall, sei es während des oft langwierigen Austrags des Prozesses – zur Entstehung der Krankheit beitrage und nicht selten allein das Leiden zu erzeugen bezw. zu erhalten imstande sei.

Was das letzte Jahrzehnt uns für die Erkenntnis der traumatischen Neurose gebracht hat, birgt des Verdienstvollen genug, gehört aber größtenteils in den engeren Bereich der wissenschaftlichen, oft genug mit überraschender Erregung geführten Kontroverse. Ein Eingehen auf diese zum Teil mehr trübenden als klärenden Polemiken muß uns im Interesse des Lesers fern liegen.

Auch über die Simulation der traumatischen Neurose zur Erlangung einer Entschädigung wollen wir ausführlicher nicht berichten. Solche Fälle grober Täuschung des Arztes kommen gewiß vor; andererseits ist zu bemerken, daß Kranke dieser Art einen entschiedenen Hang zur Uebertreibung der bestehenden Krankheitssymptome besitzen. Oft genug aber entbehren diese Uebertreibungen des Begriffes des Absichtlichen, oder sie sind als halbbewußte eben auch ein Symptom der Krankheit. Wissen wir doch, daß nervöse, zumal hysterische Damen auch dann, wenn ihnen aus ihren Klagen keinerlei Vorteil und Genuß erwächst, erstaunlich stark auftragen. Welcher Arzt wollte der schwer Leidenden, die er wie gelähmt im Bett antrifft, mißtrauen, weil sie am Abend zuvor getanzt und eine anregende Unterhaltung geführt hat? Auch unsere Telephonistin hatte man dabei ertappt, daß sie heitere Gespräche geführt, wenn ich nicht irre, auch ein Liedchen geträllert. Der erfahrene Nervenarzt, welchem die oft unberechenbare Laune der traumatischen Neurose nicht minder geläufig ist, als jene der Hysterie, wird sich durch solche Zeugenbekundungen, so wenig sie an sich zu beanstanden sind, nicht irre machen lassen.

Nichtsdestoweniger fehlt es auch bei unserem Leiden nicht an bedenklichen bewußten Uebertreibungen, die als solche zu erkennen und nachzuweisen der gewissenhafte Praktiker nicht müde werden darf.

Aufschlüsse über die Behandlung unserer Krankheit wird der nachsichtige Leser nicht erwarten. Zählt ja doch die Feststellung des Heilplanes und die Art der Anwendung der ihm dienenden Mittel zu den eigensten Aufgaben des Arztes. Es begreift sich, daß sich an ihrer bei der oft erstaunlichen Hartnäckigkeit des komplizierten Krankheitszustandes leider nicht immer erfolgreiche Lösung der Nervenarzt, der „Innere“ und der Psychiater beteiligen.


Zum Holbein-Jubiläum.

Von Dr. H. A. Schmid.
(Mit der Kunstbeilage XXVII und den Bildern S. 857, 865, 866 und 867.)

Um diese Jahreszeit vor vier Jahrhunderten wurde in Augsburg der Mann geboren, der neben Dürer als der größte deutsche Künstler im Zeitalter Raffaels und Michelangelos gefeiert wird und als einer der größten deutschen Maler aller Zeiten. Das Kalenderjahr, in dem Holbein der Jüngere geboren wurde, ist allerdings nicht sicher festzustellen. Auf seinem Selbstporträt unter den Malerbildnissen in der großen Florentiner Sammlung der Uffizien gab der Künstler selbst im Jahre 1543 sein Alter auf 45 Jahre an. Die Inschrift zwar, die man heute sieht, ist späteren Datums, aber darunter bemerkt man noch die Spuren einer gleichlautenden älteren und authentischen. Da Holbein nun erst im Herbst desselben Jahres, und wie es scheint plötzlich an der Pest, gestorben ist, könnte man danach annehmen, daß das Porträt Mitte 1543 entstanden und er Mitte 1498 geboren wurde. Anderseits aber hat Holbeins Vater (Hans Holbein der Aeltere) auf einem mit dem Silberstift gezeichneten Porträt aus dem Jahre 1511, das sich im Berliner Kupferstichkabinett befindet, das Alter seines Sohnes auf 14 Jahre angegeben, woraus man auf das Jahr 1497 schließen sollte. Es können aber beide Angaben bis auf den Monat richtig sein, wenn Holbein Ende 1497 oder Anfang 1498 geboren wurde, das Jugendporträt erst Ende 1511, das Selbstporträt aus dem Todesjahr aber gleich im Beginn dieses Jahres entstanden ist, und da sowohl Holbein der Jüngere selbst wie sein Vater sich kaum getäuscht haben können, unterliegt es keinem Zweifel, daß in unseren Tagen der 400jährige Geburtstag des großen Meisters wiederkehrt.

Als Holbein geboren wurde, stand Dürer schon im Mannesalter, hatte nach langem Ringen die Steifheit und Befangenheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 864. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_864.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2023)