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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

besessen, seine Emerenz, sein ganzes Hoffen und Sehnen durch Jahre, sein heimliches Glück! Unwillkürlich dachte der Romedi, wie gut es sei, daß der Kurzweger keine Kinder habe, damit sich die Schande nicht vererbe und die Leute einst mit Fingern auf sie zeigten, als auf die Kinder eines Selbstmörders.… Doch die Emerenz war nun die Witwe eines Selbstmörders!

Aber mußten denn das die Leute wissen? Die Frage tauchte plötzlich in der Seele des Romedi auf. Freilich mußten sie es wissen! – Er und sein Bruder würden den Kurzweger ins Dorf tragen. Dann würden sie vernommen werden, er würde alles abliefern, was er bei dem Toten gefunden, also auch den Geldbeutel mit dem Zettel. Freilich, ohne den Zettel könnte es kein Pfarrer und kein Richter entscheiden, ob der Kurzweger, unkundig der Wege im Berg, bei dem greulichen Wetter nicht doch vielleicht verunglückt sei. Man könnte ihm ein stilles christliches Begräbnis und eine ehrliche Ruhestätte nicht verweigern.

Der Romedi hatte sich umgewandt, seine Hand sank bleischwer auf den Zettel, der noch auf dem Tisch lag. Durfte er ihn verheimlichen? War es nicht Sünde? Hatte es die Emerenz um ihn verdient? – Die Brust des Burschen hob sich in schweren Atemzügen. In seinem Innern tobte ein furchtbarer Kampf zwischen Pflicht, Religion und persönlicher Empfindung. Er fühlte, daß er in diesem Augenblick der Richter über den stillen Mann in der Stube war für diesseits und jenseits. Nein, für das Jenseits nicht! Da entscheidet ein anderer. Er warf unwillkürlich einen Blick nach dem Kruzifix im Herrgottswinkel, an dessen Armen blutrote Maiskolben hingen und dessen Fuß ein Strauß von Feldblumen zierte.

Da fiel ihm plötzlich ein Spruch ein, den er noch in der Schule gelernt hatte… „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ – Auf einmal waren die Worte da, als wären sie vor ihm gesprochen worden. Wie unter einem Zwange ergriff er den Zettel mit der verhängnisvollen Aufzeichnung und hielt ihn an das Kerzenlicht. Ein kurzes Aufflackern: das Zeugnis war zerstört für immer und ewig. Niemand sollte davon erfahren! Auch nicht die Emerenz! Das schwor sich der Romedi der erleichtert aufatmete… „Die Leut’ brauche's nit z’ wissen!“ murmelte er vor sich hin. „Das hat der Kurzweger mit unserm Herrgott selber ausz’machen. Und ganz wird er ihn vielleicht doch nit verlassen, weil er noch im letzten Augenblick an ihn denkt hat. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“

Bald darauf trat der Bruder in die Stube. Er hatte die Tragbahre vollendet. Die ersten bleichen Schimmer des Morgens brachen durch die Fenster herein. Die beiden Brüder luden den Kurzweger auf die Bahre, bedeckten den Leichnam mit Reisig und traten mit ihrer Last den Weg ins Dorf an.

Je näher sie dem Dorfe kamen, desto mehr Leute gesellten sich zu ihnen, die zuerst scheu fragten, dann, ihre Stimmen dämpfend, die Hüte zogen und sich anschlossen. Die Hüte der beiden Brüder lagen auf der Tragbahre. Beide waren sie barhaupt in der schneidigen Morgenluft vom Berg herabgewandert. Trotzdem rannen ihnen die hellen Schweißtropfen über die Stirn.

Es war ein langer Zug, als man die ersten Häuser des Dorfes erreichte. Wieder beteten sie alle: „Herr, gieb ihm die ewige Ruh’!“ – Dann hielt man vor dem Praxmarerhof, der nach dem Tode des alten Bauern in den Besitz der Emerenz und ihres Mannes übergegangen war.

Man hatte das unglückliche Weib von dem Vorgefallenen bereits verständigt. Sie wankte dem Zuge entgegen und brach vor der Bahre in die Kniee. Dann erst warf sie einen scheuen Blick um sich und sah den Romedi.

„Du, Romedi?“ stammelte sie kaum hörbar.

„I bin’s, Emerenz,“ stieß er hervor. Er hatte das Gefühl, als ob er noch etwas sagen sollte, ein Wort des Mitleids, des Trostes. Er vermochte es nicht. Es war ihm zu Mute, als ob man ihm mit einem eisernen Griffe die Kehle zusammenschnürte. Er spürte es als eine Erleichterung, als einige Weiber die Emerenz in das Haus führten und sie ihm aus dem Gesicht kam. Des Toten nahmen sich jetzt auch andere Leute an. So faßte er seinen Hut und ging still davon. Sein Bruder, der die Kleider des Kurzwegers trug, folgte ihm. Unterwegs begegnete beiden der Gendarmeriewachtmeister, der sie anhielt und in seine Kanzlei geleitete. Dort deponierte der Romedi, was er gefunden: Uhr, Messer und Geldbeutel, und gab ruhigen Tones an, wie er den Kurzweger nach dem gestrigen Gewitter in dem angeschwollenen Wildbach hinter seinem Haus gefunden hatte. Er sei wohl in dem Unwetter vom Wege abgekommen und so verunglückt. Das wurde alles zu Protokoll genommen.

Härter ward es dem Romedi schon, als er beim Pfarrer die gleichen Angaben wiederholen mußte. Da brauchte er seine ganze Selbstbeherrschung, um sich mit keiner Miene zu verraten. Immer aber wiederholte er sich den Spruch, der ihn in der Stube droben zu dem Entschluß getrieben hatte. Und der Spruch stand doch im Evangeli: Also mußte er seine Geltung haben! Aber hatte er ihn denn auch richtig erfaßt? Gab er ihm denn das Recht, zu verheimlichen, was auf dem Zettel gestanden, diesen zu verbrennen? Immer wieder tauchten diese Zweifel in ihm auf und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Als der Romedi im Laufe des Nachmittags auf den Friedhof kam, hatten sie den Kurzweger bereits in der Totenkapelle aufgebahrt. Eine gebrochene Gestalt kauerte in einem Betstuhl. Es war die Emerenz. Er erkannte sie wohl bei dem dämmerigen Licht in der Kapelle. Sie sah ihn nicht. Sie schien inbrünstig zu beten. Ein schweres Stöhnen hob von Zeit zu Zeit ihre Brust.

Ob er sie ansprechen sollte? Unwillkürlich trat der Romedi ganz leise zurück und lehnte sich erschöpft an den steinernen Thürpfosten. Wohl hätte er sie gern angesprochen. Eine Frage brannte ihm auf der Zunge – ob sie den Mann, für den sie betete, geliebt habe ober nicht. Und wenn sie Ja gesagt hätte, was dann? Dann – dann – dem Romedi flimmerte es vor den Augen – dann hätte er ihr’s ins Gesicht geschleudert, daß der Kurzweger ein Selbstmörder sei. Dann hätte er sich gerächt. Seine Aussage hätte er umgestoßen. Ins Dorf wäre er gelaufen und hätte es geschrieen vor allen Thüren. Reißt ihn heraus aus der geweihten Stätte! Er ist ihrer nicht würdig! – Das fühlte der Romedi, das würde er gethan haben. Er frug nicht. Als er jetzt zu bemerken glaubte, daß das Weib vor ihm den Kopf ein wenig wende, trat er eilig auf den Zehenspitzen aus der Thüre und verließ den Friedhof. Er wollte mit ihr nicht sprechen. Er wollte von ihr nicht einmal gesehen sein.

Auch heute war es schon Nacht, als der Romedi mit dem Bruder seine einsame Behausung im Berg erreichte. Eine friedsamere Nacht als gestern. – – –

In den bedrückten Vermögensverhältnissen des Kurzwegers war durch dessen Tod natürlich keine Aenderung eingetreten. Im Gegenteil hatte sich die Lage wesentlich verschlimmert, indem nun auch die kleineren Hypothekargläubiger kopfscheu wurden und ihre Posten aufkündigten. Das ganze prächtige Anwesen schien für die Witwe verloren. Die endgültige Versteigerung erfuhr allerdings einen mehrwöchigen Aufschub, da noch verschiedenes gerichtlich zu erledigen war. Für Anfang September wurde jedoch die Exekution des Praxmarerhofes einschließlich sämtlicher Gründe, Waldteile und Liegenschaften endgültig festgesetzt.

Den ganzen Sommer über hatte man den Romedi fast gar nicht mehr im Dorf gesehen. Sogar an den Sonntagen zog er es vor, einen stundenweiten Umweg in ein Nachbardorf zur Kirche zu machen. Auch in seinem Hause war er selten zu treffen. Wenn man seinen Bruder nach ihm fragte, so war dessen regelmäßige Antwort, der Romedi sei halt wieder „in dö Stoaner!“

Auf dem Hofe der Emerenz ging es diese Zeit hindurch um so lebhafter zu. Ein Gerichtsbote gab dem andern die Thürklinke in die Hand. Die junge Witwe hatte viel zu unterschreiben, aber nichts Erfreuliches. Inzwischen, hieß es, sei der Kramer eifrig drauf aus, alle kleineren Hypotheken aufzukaufen, und zahle dafür den vollen Wert. Einige munkelten auch, daß er die Absicht hege, die immer noch schöne Emerenz zu heiraten, wurden jedoch mit ihrer Vermutung von andern herb ausgelacht.

Etwa eine Woche vor dem Termin der Versteigerung erzählte man sich, daß der „Stoandlnarr“ nun gar „af Münken (München) außi“ sei. Der müsse wohl „a woltern“ großes Geschäft haben, daß er eine so weite Reise unternehme. Da man den Romedi aber ohnedies nicht zu den normalen Menschen, sondern nur zu den „Halbausgebackenen“ rechnete, kümmerte man sich auch nicht weiter um den Zweck seiner Reise. …

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 868. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_868.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2017)