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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Wie das erste Deutsche Parlament entstand.

Ein Rückblick von Johannes Proelß.
I. Märtyrer und Pioniere.


Das neue Jahr bringt ein Halbjahrhundert deutscher Geschichte zum Abschluß, das von den welterschütternden Ereignissen des Jahres 1848 seinen Ausgang genommen hat. In diesem Jahre 1898 werden es fünfzig Jahre, daß unter Entfaltung eines idealen Sinns ohnegleichen, unter Irrungen und Wirrungen von düstrer Tragik das deutsche Volk seine Wiedergeburt im Geist einer neuen Zeit, im Geiste der Freiheit erlebte.

Vor fünfzig Jahren brachte der Ansturm einer lawinenartig anschwellenden Volksbewegung die starre Gewaltherrschaft des Metternichschen „Systems“ zu Fall, das auf Unterdrückung jeder freien Regung des deutschen Volksbewußtseins gerichtet war und das Bekennen der Liebe zum großen Gesamtvaterlande als todeswürdiges Verbrechen verfolgte. In dem Jahr „Achtundvierzig“ trat in der Kaiserkrönungsstadt des alten von Napoleon zertrümmerten Reichs, am Sitz des dem Spotte der Welt verfallenen Bundestages, in der Paulskirche zu Frankfurt a. M., das erste Deutsche Parlament zusammen, eine Volksvertretung aller Deutschen, betraut mit der Aufgabe, für ein neuzugründendes Deutsches Reich eine freie Verfassung zu schaffen. Und wenn die damals entstandene Reichsverfassung auch ebensowenig ins Leben trat wie das damals erstrebte Reich, so ist doch jene Großthat des seiner Fesseln plötzlich entledigten Volksgeistes Voraussetzung geworden alles weiteren Fortschritts zur Erfüllung dessen, was das deutsche Volk damals ersehnte.

J. A. v. Jtzstein.
Nach der Lithographie von Winkerwerb.

In dem begeisternden Idealbild, das Friedrich Schiller in seinem „Tell“ von einer sittlich berechtigten Revolution zur Befreiung und Einigung des Vaterlandes entworfen hat, geht dem offenen Ausbruch derselben die heimliche Versammlung auf dem Rütli voraus. Auch die große deutsche Volkserhebung des Jahres Achtundvierzig hat eine Art „Rütli“ gehabt. Das feierliche Gelübde, das Schillers Landboten auf der ausgerodeten Waldstelle am Vierwaldstätter See schwören: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern!“, es ist auf dieser heimlichen Zusammenkunftsstätte deutscher Vaterlandsfreunde mehr als einmal von begeisterten Männerlippen erklungen. Dies Rütli war am Ufer des schönen Rheinstroms, im Rheingau, gelegen.

Dort oberhalb von Oestrich und Hattenheim in Hallgarten, auf jenem Uferhang, wo der köstliche Marcobrunner gedeiht, besaß der alte Kämpe der Volksinteressen im badischen Landtag, Johann Adam v. Jtzstein, ein Landgut. In stiller Abgeschiedenheit, umhegt von Rebgärten, beschattet von Waldeswipfeln, bot es ein weltentlegnes Asyl. In seinen Räumen versammelte sich in dem Jahrzehnt vor 1848 fast alljährlich eine erlesene Schar von Vaterlandsfreunden aus verschiedenen Ländern Deutschlands um den bewährten Führer, mit ihm sich in aller Heimlichkeit über gemeinsame Mittel zur Herbeiführung besserer Zustände im Vaterland zu beraten. Die Nähe von Schloß Johannisberg, dem stolzen Besitztum des Fürsten Metternich, schreckte sie nicht – gerade hier, wo der gefürchtete Beherrscher der österreichischen Monarchie, des „Deutschen Bunds“ und der „Heiligen Alliance“ jeden Sommer persönlich erschien, gerade in dieser gesegneten Gegend, die cin harmlos frohes Winzervolk bewohnt, suchte man keine Verschwörer.

Fürst Metternich.

Welch ein poetischer Kontrast dies Nebeneinander, vom Geist der Weltgeschichte selbst gedichtet! Dort oben das glänzende Schloß, das seine Zinnen stolz dem Rheine zukehrt, in das der allmächtige Staatskanzler alljährlich einzieht, um Erholung von jenen Regierungsgeschäften zu suchen, die das deutsche Volk um seine verbrieften Rechte, um Würde und Ehre bringen – daneben der schlichte Landsitz des tapferen Volksmannes, in dem sich heimlich deutsche Volksvertreter zusammenfinden, um den Sturz dieses unerträglichen Regiments vorzubereiten! Beide Männer, der Volksmann wie der Staatsmann, um diese Zeit schon betagt, waren am Rheinesufer als Söhne altangesessener Familien zur Welt gekommen. Dieselben traurigen Verhältnisse, die den Untergang des alten Reichs deutscher Nation bewirkten, hatten den einen zum mächtigsten Mann der Erde, aber zum Unterdrücker des Volkes, den andern zum amtlosen Politiker, aber zum Liebling des Volkes gemacht.

Karl Theodor Welcker.
Nach der Lithographie von H. Hasselhorst.

Fürst Metternich war früh in den Dienst des kaiserlichen Erzhauses getreten. Diesem ist er immer ein treuer Diener geblieben. Als Kaiser Franz ihm 1816 nach dem Wiener Kongreß dies Schloß Johannisberg mit seinen Edelweinen als Ehrengeschenk überwies, hatte er’s um das Haus Habsburg wohlverdient. Deutschlands Erniedrigung unter Napoleons Druck, das Elend der Rheinbundszeiten, die Siege der Befreiungskriege, alles hatte er zu benutzen gewußt, um Oesterreichs Hausmacht weit über ihre früheren Grenzen und tief nach Italien hinein zu erweitern. Zur Erhöhung und Sicherung dieser Macht hatte er auf dem Wiener Kongreß die Pläne der preußischen Patrioten Stein und Hardenberg, die ein neues deutsches Reich mit freier Verfassung wollten, eifrig und siegreich bekämpft und statt ihrer die Gründung des „Deutschen Bundes“ durchgesetzt, in welchem alles darauf angelegt war, Preußens durch den siegreichen Krieg und Steins Reformen wiedererstarkte Macht nach Möglichkeit zu schwächen und zu lähmen. Bei der Aufteilung des Napoleonischen

Das vormals v. Jtzsteinsche Gut in Hallgarten.
Nach einer Zeichnung von W. Schulte vom Brühl.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0012.jpg&oldid=- (Version vom 28.12.2016)