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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

junge Dame lachte einigemal hell auf, ihre Augen leuchteten so glückerfüllt. Sie strich zärtlich mit ihrer kleinen Hand über die starkgebräunte des Vaters – sie waren wieder ganz unter sich!

„Zu gut hast du alles gemacht, Väterchen – mit keinem anderen möchte ich reisen als mit dir, es kann’s auch keiner so verstehen!“

„Und siehst du,“ erwiderte der alte Herr geschmeichelt, „alles auf die Minute, genau wie wir es uns vorgenommen. Ja, ja, man muß alles lernen – auch das Reisen, mein Kind! Wie viel kostbare Zeit habe ich früher vergeudet auf meinen Fahrten, aber jetzt bin ich ein Praktikus. Bevor ich eine solche Reise antrete, wird gearbeitet – fleißig gearbeitet –“

„Du hast ja auch weiter nichts zu thun,“ dachte Rupert bei sich und wandte den Blick nicht von der jungen Dame, obwohl er die Augen halb geschlossen hatte und so that, als schliefe er allen Ernstes.

„Da wird der Plan gemacht wie ein Schlachtplan!“ fuhr der alte Herr mit sichtbarem Behagen fort. „Tag für Tag, Stunde für Stunde, und dann – wie es auch komme – keine Abweichung. Das kann ich nicht vertragen. Das stürzt die ganze Taktik. Nur so war es möglich, dir in der kurzen Zeit ganz Oberitalien zu zeigen und noch ein gut Stück der Schweiz. Doch nun, mein Herz – es ist fünf Uhr vorbei – du weißt, das ist meine Mahlzeitstunde auf solch einer Eisenbahnfahrt.“

Die junge Dame erhob sich. Flugs streifte sie den Handschuh von der weißschimmernden Hand, flugs nahm sie die zierliche Handtasche aus dem Netze, breitete eine kleine Serviette über die Kniee des Vaters, gab ihm eine zweite in die Hand und reichte ihm aus den weißen Pergamenthüllen eine Buttersemmel, so reich und appetitreizend zubereitet, daß Rupert das Wasser im Munde zusammenlief, obwohl er es sonst wenig liebte, auf der Eisenbahn etwas Mitgebrachtes zu genießen. Ein Hühnerflügel folgte, den sie geschickt mit einem kleinen Messer tranchierte, dann kam ein Ei, das sie in Salz wälzte, und Semmel und Huhn und Ei verzehrte der alte Herr mit einem so großen Wohlbehagen, daß Rupert einen Appetit dabei bekam, wie er ihn kaum im Leben empfunden.

In diesem Augenblick entglitt ein kleines Gläschen den geschäftigen Händen des Fräuleins und fiel so unglücklich, daß es klirrend zersprang. Das Fräulein wurde purpurrot. Rupert kam ihr zuvor und sammelte die Scherben. Er that es mit größerem Geschick, als es ihm sonst in solchen Dingen eigen war. Die junge Dame dankte ihm mit leiser Verbindlichkeit, und wieder errötete sie. Dieses schnelle Erröten bei den geringfügigsten Gelegenheiten wiederholte sich später noch öfter – es schien eine Eigentümlichkeit von ihr zu sein, und wie es meist in solchen Fällen ist, so schien sie dieselbe zu kennen und gar nicht angenehm zu empfinden. Aber gerade diese Eigentümlichkeit und die Befangenheit, die mit ihr verbunden war, stand ihr wunderbar gut zu Gesichte; sie erhöhte den mädchenhaften Reiz der feinen Züge und entzückte Rupert jedesmal von neuem.

Indessen war der alte Herr beim Käse angelangt, den er auf Pumpernickel zu speisen beliebte.

„So, mein Kind,“ sagte er dann, sorgsam mit der Serviette den Mund streichend und den fein gepflegten Bart bürstend, „noch eine gute Stunde, und wir sind in Heidelberg.“

„Und du wolltest nicht, Väterchen –?“

„Nein, mein liebes Kind, dieses Mal nicht. Du weißt, ich gehe nie von meinen Vorsätzen auf Reisen ab, und in Heidelberg zu bleiben, haben wir nicht geplant.“

„Ich hätte Heidelberg so gern gesehen,“ warf die junge Dame sehr zaghaft und schüchtern ein.

„Ein anderes Mal, liebes Kind, ein anderes Mal! Was ist Heidelberg auch für jemand, der aus der Schweiz kommt und Italien. Nein, wir fahren bis Frankfurt durch. Du siehst, hier steht es in meinem Notizbuch: ,den 23. Juli abends 8 Uhr 12 Minuten in Frankfurt. Abendbrot im Palmengarten.‘ Ich sage dir, schöner kannst du nirgend in der Welt soupieren als in diesem Palmengarten. Laß mich nur machen. So lange sind wir konsequent gewesen, wir wollen es auch bis zum Schluß bleiben!“

Die junge Dame wagte keine Einwendungen mehr.

„Apropos!“ rief der alte Herr, „um die Hauptsache nicht zu vergessen – jetzt meinen Cognac!“

„Jawohl, Väterchen.“ Sie sagte es mit einem leisen Anflug von Befangenheit im Tone. Und diese Befangenheit wurde sichtbarer und stärker. Sie kramte und suchte mit wachsender Hast in der kleinen Reisetasche, sie nahm mit bebender Hand Stück für Stück heraus – alles vergeblich! Die Cognacflasche fand sich nicht.

„Nun?!“ fragte der alte Herr schon etwas ungeduldig.

„Väterchen – den Cognac – den muß ich in der Eile der Abreise in Basel liegen gelassen haben – ich finde ihn nicht.“

„Aber Kind!“ rief der alte Herr höchst unwillig – „den Cognac gerade! Alles hättest du in Basel liegen lassen können, aber den Cognac nicht! Du weißt, daß ich ohne Cognac auf der Reise nicht leben kann.“

„Hier ist guter Rotwein – auch noch etwas Portwein!“

„Geh’ mir mit dem Wein – ich kann auf der Fahrt nur Cognac trinken. Nur der bekommt mir. Und den gerade mußt du vergessen!“

„Alter Tyrann!“ räsonnierte Rupert in grimmigen Gedanken, aber seine Außenseite zeigte eine Teilnahme, ein Bedauern mit dem alten Herrn, die dem größten Komödianten alle Ehre gemacht haben würde. Was hätte er darum gegeben, eine Flasche Cognac in der Reisetasche zu haben!

„Wo ist der nächste Aufenthalt?“ knurrte der alte Herr.

Die junge Dame nahm das Kursbuch. „Karlsruhe,“ erwiderte sie.

„Wie lange?“

„Vier Minuten.“

„Gut – dann kann ich dort eine Flasche kaufen.“

„Aber, Väterchen – vier Minuten?!“

„Aha,“ lachte der alte Herr. „Du meinst, mir wird es so gehen wie unserem jungen Pärchen da in Zürich auf der Hochzeitsreise, wo er auf dem Bahnhofe sitzen blieb und sie allein weiter reiste? Ohne Sorge, liebes Kind – das passiert einem erfahrenen Reisepraktikus nicht! Ist das schon Karlsruhe?“

Der Zug fuhr einen Augenblick langsam, dann hielt er. Der alte Herr erhob sich, winkte seiner Tochter „Auf Wiedersehen“, und fort war er, den weit entfernten Wartesälen zu, mit der Geschmeidigkeit eines Jünglings.


3.

Es war ein unendliches Gewühl auf dem Bahnhof, ein Andrang, wie er selbst in dieser Zeit selten ist. Mehrere Züge standen zugleich auf den vielen Geleisen, gefüllte und leere – Lokomotiven rangierten hin und her, Klingeln, Glockensignale ertönten, Beamte wetterten, Warnungsrufe klangen dazwischen.

Die junge Dame blickte von ihrer Ecke aus nachdenkend auf das Getriebe und Gewoge. Es lag jetzt ein sinnender, fast wehmütiger Ausdruck in den dunklen Augen.

Mit einem Male – was war das?!

Jäh fuhr sie in die Höhe. Nein, es konnte nicht sein – es war unmöglich – es war sicher der andere Zug – der neben ihr auf dem nächsten Geleise – es war eine Täuschung wie so oft, auf den Bahnhöfen gerade – doch nein – nein!

„Um Gottes willen!“ rief sie, „geht unser Zug schon?“

Rupert war so in ihren Anblick versunken gewesen, daß er ebenfalls von dem Abgang nichts gemerkt hatte.

„Wahrhaftig – er geht!“ antwortete er, sich erhebend.

„Mein Vater – mein Vater! Lassen Sie mich aussteigen, ich bitte Sie, lassen Sie mich –“

Er hielt sie zurück.

„Mein gnädigstes Fräulein, der Zug ist in der Fahrt!“

„Das hilft nichts – ich kann doch unmöglich ohne meinen Vater ... Daß Sie das nicht einsehen! ... Herr Stationsvorsteher, ich bitte Sie, lassen Sie halten!“

Der Stationsvorsteher zuckte bedauernd die Achseln.

Der Zug fing an, sich in ein schnelleres Tempo zu setzen.

Das Fräulein, das bisher suchend und winkend aus dem Fenster gelehnt hatte, trat zurück. „Nein dies Unglück – mein Vater!“

Rupert bedauerte die junge Dame von Herzen, aber hinein in dieses Bedauern stahl sich die Freude. War es ein wenig Schadenfreude über den siegessicheren Reisepraktikus, war es der Reiz, mit dieser jungen, schönen Dame allein zu sein, die ihm so stolz und unnahbar erschienen war, und sie nun auf seinen Rat und seine Hilfe angewiesen zu wissen?

Als er aber auf das Fräulein blickte, als er sah, wie der leuchtende Stolz plötzlich aus den dunklen Augen gewichen war, wie sie so verlassen, so hilfesuchend zu ihm herüberschaute, mit den Thränen ringend, und wie jetzt trotz aller ihrer Tapferkeit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0019.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)