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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

war nicht eine jener übereilten, bald bereuten Verlobungen, die ein Student in den ersten Semestern schließt und löst es war ein ernster, ein heiliger Herzensbund. Wie falsch, solche frühen Verlobungen als eine unverzeihliche Thorheit zu betrachten! Wie viele Männer danken gerade ihr ihre ganze Existenz, ihre Charakterbildung! Tu mein Gott, wenn ich daran denke, was ich diesem Bunde, diesem tapferen Mädchen alles zu danken habe! Wie wußte sie mich zu trösten, wenn ich ungeduldig und verzagt wurde in dem ewigen Harren und Warten auf eine Anstellung, wie den Mut mir zu heben, wenn er sinken wollte! Und dabei nie das leiseste Wort der eigenen Klage, der Unzufriedenheit in all dem schweren Leben und den Bitternissen – denn sie ist heute noch Gouvernante.“ Er hatte mit wachsender Wärme gesprochen, aber die blauen Augen des Fräuleins blickten noch immer so vergessen, so leblos in das sonnige Thal, um die roten Lippen spielte noch immer der verräterische Stolz.

„Es ist ja schließlich kein berauschendes Glück, kein Himmelhochjauchzen, solch eine siebenjährige Verlobung – das können Sie sich wohl denken! Aber ein dankbares Sichgesichertwissen des Herzens, ein wohliges Geborgensein ist es gewesen! Ja, das ist es gewesen – bis auf den gestrigen Tag!“ In seine bleichen Wangen schoß ein jähes Erröten, die scharfgeschnittenen Nasenflügel bebten, und schnell wandte das Fräulein sich ab.

„Ja, bis auf den gestrigen Tag – bis auf diese Mondnacht hier am Schlosse – mit Ihnen!

Nein, nein – Sie müssen mich hören, bis zum Ende hören, ich kann Ihnen diese Beichte nicht ersparen – ich darf es nicht.

Gestern, als ich Sie sah, als ich mit Ihnen auf dieser Stelle stand und sprach, wie ich noch nie mit einem Menschen gesprochen, da geschah etwas Unbeschreibliches. Ein Empfinden zog mir durch die Seele, das ich nicht wiederzugeben vermag. Wie ein wilder Taumel raste es mir durch das Blut, mit unwiderstehlicher Gewalt klang durch mein Inneres wieder und wieder: du bist noch nie glücklich gewesen! du hast die ganze Schöne des Lebens und seine reichsten Schätze noch nie gekannt! du bist ein armer betrogener Narr! Was mir bis dahin der Inbegriff des Friedens war und des sonnigen Glücks, das wurde mir mit einem Male zur drückenden Fessel. Ich fühlte mich gebunden, ich begann gegen meine Bande zu kämpfen – frei wollte ich sein und fühlte, daß ich ein Sklave war. Wie ein einziger Augenblick den ganzen Inhalt eines Lebens, das so festgefügte Gebäude eines langbewährten Glückes umzustoßen vermag – ich habe es nie geahnt, aber gestern habe ich es erfahren!“

Er hielt inne und atmete tief.

In den lauschigen Gründen sangen die Vögel, und unten von der Stadt herauf klang das vielstimmige Läuten der Kirchenglocken zur alten Burgruine empor, so feierlich und mahnend, denn es war Sonntag und die Kirchstunde war nahe.

„Was ich dagegen gethan?“ fuhr Rupert langsam fort, und die Unsicherheit, mit der er bis jetzt gesprochen hatte, wich einer wachsenden Festigkeit. „Als ich gestern von Ihnen Abschied nahm, ging ich allein hinaus in die feiernde Natur. Ein Kampf wogte in meinem Inneren, wie ich ihn niemals durchgemacht, die widerstrebendsten Gefühle stürmten auf mich ein. Ich mußte Ruhe und Festigkeit haben um jeden Preis! So konnte ich es nicht einen Tag länger tragen. Ich sagte mir: Wenn das, was du bis heute für das größte Glück deines Lebens gehalten, sich im ersten Ansturm als ein leerer Wahn erweist, so giebt es nur eine Pflicht noch, und die heißt: brechen, so bald wie möglich Bande brechen, die dir unerträglich sind! Ich gebe es zu, ich dachte in diesem Augenblick wenig an sie, an das Herzeleid, das ich über sie bringen würde, ich dachte nur an mich: es war eben unmöglich, es war gegen meine ganze Natur, unter diesem Zwiespalt im alten Geleise fortzuleben. Was sollte ich thun? Wie mußte ich handeln? Ich prüfte mich mit rücksichtslosem Ernst, indem ich am nächtlich rauschenden Neckar langsam dahinging. Tausendmal stellte ich mir dieselbe Frage, aber die rechte Antwort wollte mir nicht werden. Da faßte ich plötzlich einen Entschluß. Ihnen wollte ich die ganze Geschichte mit ihrer Freude und ihrem Leid erzählen, Ihnen alle meine Kämpfe offenbaren, offen und ohne jeden Rückhalt. Sie haben mich gestern verstanden, wie mich noch niemand verstanden! Sie sind unparteiisch in der ganzen Sache. Sie sollten mir sagen, ob nach dem, was ich Ihnen heute bekannt, solch ein Bündnis noch weiter möglich ist und segenbringend, Sie den Weg mir weisen, Sie allein, und wie Sie ihn zeigten, so wollte ich ihn gehen!“

Wieder hielt er inne, aber das Fräulein stand so regungslos, so geistesabwesend, als ginge die ganze Geschichte da sie gar nichts an.

„So,“ fuhr er fort, „stand es gestern bei mir fest, so wollte ich heute handeln. Da aber ereignete sich etwas Wunderbares - so wunderbar, daß ich fürchte, Sie werden mich jetzt nicht mehr verstehen. Da erzählen Sie mir von Ihren engen Beziehungen zu dem Manne, der mein Wohl und Wehe in seinen Händen hält, öffnen mir goldene Berge der Zukunft, stellen mir eine Anstellung in Aussicht, wie ich sie kaum mehr zu hoffen wagte. Und da – sehen Sie – da mit einem Male steht dieses Mädchen vor mir, dieses Mädchen, das mit mir geharrt und gehofft, mit mir alle Enttäuschungen durchlitten, um immer von neuem weiter zu hoffen und zu warten. Und ich sollte jetzt, wo endlich das heißersehnte Ziel sich zeigt – nein, das wäre undankbar, das wäre ärger als der schändlichste Verrat! Und mehr noch. Als Sie mir diese Aussichten eröffnen, da mit einem Male wird es mir klar, wie arm meine Freude wäre, wie nichtig, wenn ich dann nicht zu ihr gehen könnte und ihr entgegenjubeln: Sieg! All dies Harren und Warten hat nun ein Ende – wir sind am Ziel! Und hatte ich mir eben noch vorgenommen, Sie zu fragen, wie ich handeln sollte, jetzt war es mir klar: ich brauche keine Antwort mehr, selbst die Ihre nicht – mein Herz hat sie mir selbst gegeben!

Der Traum ist vorbei, den ich gestern geträumt – ich bin erwacht. Aber so dunkel und traurig, wie sie mir erst schien, ist diese Wirklichkeit nicht – freilich eine Mondnacht wie die verflossene hier am Heidelberger Schloß mit all ihrem Zauber und ihrer Märchenpracht kann sie nicht sein, aber ein freundlicher, heller Sonnenschein, ein stiller Sonntagsfrieden, in den hinein die festlichen Glocken tönen – so ein ehrsames Glück, wie es sich für einen Schulmeister ziemt.“

Sie wandte ihm langsam das schöne Antlitz wieder zu – die jähe Röte war gewichen. Ein wehmütiger Frieden lag auf ihm wie ein matter Abendglanz.

„Und wie ich Ihnen mein Herz offenbart, so will ich ihr erzählen von diesem Sommernachtstraum in Heidelberg. Und erzählen –“ seine Stimme nahm einen weichen, schmeichelnden Klang an, als er nun, ganz nahe an sie herantretend, fortfuhr, „von der Dame, deren Knappe ich sein durfte, die hier auf der Schloßterrasse gestanden wie eine Königin aus der Märchenzeit, welche alle Jahre einmal niedersteigt zu den Sterblichen, ihre geheimsten Wünsche anhört und sie erfüllt, bevor sie ausgesprochen – von der Königin, der allein wir unser Glück verdanken!“

Er streckte ihr bittend die Hand entgegen, einen Augenblick zögerte sie – dann reichte sie ihm langsam die ihre.

Dabei sah sie ihn mit einem langen Blicke an. Und in dieser Sekunde lag etwas Unsagbares in ihren dunklen Augen, etwas, wie es nur ein Frauenauge widerspiegeln kann und auch dieses nur selten; und wenige sind es, die es je gesehen haben. Die Wenigen aber vergessen es nie.

„Und nun Lebewohl – wir müssen zur Stadt hinunter.“

„Lebewohl!“ wiederholte sie leise und ernst.

Einen Augenblick noch hielten die Hände sich gefaßt – einen Augenblick ruhten die schimmernden Augen ineinander.

Die Glocken waren längst verstummt. Es war so lautlos still, so feierlich rings umher – nur in den dichten Kastanienbäumen über ihnen rauschte der Wind, und drüben in den Büschen schlug leise und lockend die Amsel.

„Marie!“ tönte es plötzlich durch die Stille. „Marie!“ hallte es wieder.

„Mein Vater!“ rief das Fräulein und stürzte dem alten Herrn entgegen, der, pustend und den perlenden Schweiß von der Stirn trocknend, den Schloßberg heraufkam.

Sie lagen sich in den Armen. Marie begrüßte ihn mit einer Herzlichkeit, als wäre er jahrelang verschollen gewesen.

Alle ihre Befangenheit schien in seiner Nähe geschwunden.

„Das war eine schöne Geschichte!“ räsonnierte der alte Herr, „in einen ganz verkehrten Zug geraten, mußte ich in einem weltverlorenen Neste übernachten. Das heißt,“ setzte er etwas verlegen hinzu, „an mir lag es nicht. Nur an den konfusen Anordnungen der Bahnverwaltung, die da Zug neben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0059.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2017)