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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Wartaus, und ganz in der Ecke hat Christels Reliquienschränkchen Platz gefunden. Die Photographien ihres verstorbenen Vaters, der Mutter und die der Schwestern, des Herrn Pastors und der Kinder hängen in der tiefen Fensternische; Christel kann sie da immer sehen. Auf einem Zierschränkchen tickt eine köstliche alte Uhr im Schildkrotgehäuse, reich mit Gold verziert, die zum Schloßinventar gehört hat. Es ist alles sehr schön, sehr behaglich, aber Christel hat Heimweh, furchtbares Heimweh nach ihrem alten einfachen Stübchen im Pächterhause drüben.

Sie hätte so gern das Eckzimmer bewohnt, es wäre ihr wenigstens der Blick auf den Hof geblieben, hinüber zu der verlassenen Stätte ihres bisherigen Lebens, aber das Eckzimmer ist die Stube mit den Wandmalereien, und Anton hat trotz seines Versprechens, tapezieren zu lassen, plötzlich erklärt, er wäre kein Barbar und werde sich hüten, solch interessante Fresken zu verkleistern. Anton hat gewiß recht, und sie versteht nichts von Kunst, Fräulein Tonette aber hat ihr soviel darüber vorgeredet, daß ihr ganz schwindlig geworden ist. Sie ist stillschweigend in das zweite Zimmer retiriert; freilich, dessen Fenster gehen nach dem winterlichen Garten, und außer ein paar Krähen ist dort jetzt nichts zu sehen als Schnee, endloser Schnee; und Christel hat so sehr viel Zeit jetzt, aus dem Fenster zu schauen. Christel ist krank aus Mangel an Arbeit; die Milchwirtschaft hat die Frau des Inspektors Heine übernommen, eine von Christels ehemaligen Milchstudenten; sie macht ihre Sache ordentlich, das ist wahr.

In der Herrschaftsküche waltet eine perfekte Köchin. Christel läßt es sich natürlich nicht nehmen, nach wie vor die oberste Stimme in diesem Ressort zu haben; sie führt auch Speisekammer- und Kellerschlüssel noch immer am Haken des Gürtels, giebt alles heraus, ordnet jedes an; sie ist beim Gänse- und Schweineschlachten noch auf dem Platze von morgens bis abends, aber sie hat doch an den gewöhnlichen Tagen sehr, sehr viel Zeit.

Anton wünscht, daß sie von elf Uhr vormittags an in einer Toilette ist, in welcher sie Besuche empfangen kann, und sie fühlt sich am wohlsten in ihrem Arbeitskleid und der großen Wirtschaftsschürze. Aber freilich hat er recht, diese vornehmen Besuche kann man nicht empfangen mit rotem Gesicht vom Herdfeuer. Ach, das Damespielen fällt Christel recht schwer! Schon die Fahrten nach den Gütern rings umher, die Erwiderung der Besuche – sie sitzt immer da wie auf den Mund geschlagen und fühlt, daß sie bald rot, bald blaß wird. Anton freilich macht ihr linkisches Benehmen wieder wett, er ist sofort mitten in einem Gespräch und weiß es spielend im Fluß zu erhalten. Woher er das nur hat? Ob er das früher schon konnte? Ihr ist bei solchen Gelegenheiten stets, als lerne sie ihn jetzt erst kennen.

Anfangs hat es Christel Spaß gemacht, in den Räumen des Schlosses umherzustöbern. Was hat sie da alles gefunden an Urväterhausrat und wunderlichem Krimskrams. Jetzt ist’s tödlich kalt in den weiten unbewohnten Räumen, und das völlige Ordnen des Inventars ist bis zum Sommer verschoben. Christel näht nun und strickt, aber ihr an Bewegung gewöhnter Körper verträgt das Stillsitzen nicht, sie fröstelt leicht, was sie sonst nicht kannte. Sie liest auch viel. Anton hat versprochenermaßen für Lektüre gesorgt, aber da sind Bücher darunter, die sie nicht begreift, die sie unruhig machen. „Nicht denken möcht’ ich’s, was darin steht,“ sagt sie zu Anton, „viel weniger schreiben. Nichts als Schlechtigkeiten, nichts als Untreue! Gottlob, so etwas liegt unserem Leben so meilenfern!“ Mitunter aber liest sie diese Geschichten doch, bis ihr der Kopf schmerzt und sie traurig wird bis zum Weinen. Das geschieht, wenn Anton auf die Jagd gegangen ist und erst spät heimkommt, oder wenn er in seiner Stube sitzt und Berechnungen macht.

Sie freut sich immer, wenn ein leises Klopfen an ihre Thür ertönt und dann ein schöner brünetter Mädchenkopf in die Stube schaut.

„Darf ich eintreten, Frau Christel?“ fragt Edith von Ebradt, „stör’ ich nicht?“

„Zu keiner Stunde, Fräulein Edith.“

Die Langeweile hat das Kind zu ihr getrieben. Bald schon nachdem die Mohrmanns ins Schloß übergesiedelt, kaum daß sie ein wenig eingerichtet waren, da hat’s zum erstenmal geklopft und auf Christels „Herein!“ ist das junge Geschöpf über die Schwelle gekommen. „Ach, liebe Frau Mohrmann, entschuldigen Sie – droben kann ich’s nicht mehr aushalten bei der Tante – lassen Sie mich ein wenig bei Ihnen bleiben.“ Und Christel, die das Kind bisher nur flüchtig sah, hat sie, ganz gerührt durch ihr Vertrauen und von dem schönen traurigen Gesicht, willkommen geheißen, und seither vergeht kaum ein Tag ohne einen Besuch des jungen Mädchens. Es hockt dann auf den Stufen der Estrade bis in die Dämmerung, und wenn Tante Tonette gerade Migräne hat, dann bleibt es sogar abends zu Tische bei Mohrmanns.

Fräulein Josepha ist richtig in ihr Stift übergesiedelt, sie konnt’s nicht ertragen, hier Fremde schalten und walten zu sehen. Tonette lebt dort oben weiter mit der jungen Nichte; mittags speisen die Damen mit Mohrmanns gegen eine geringe Entschädigung. Edith zulieb hat Tonette von Wartau eingewilligt, unten im Tafelzimmer mit ihnen zu essen; „man hört da doch mal ein Wort reden,“ sagt das alte Fräulein.

Tonette ist eine ganz vernünftige Person, sie sucht sich mit der Wandlung der Dinge abzufinden. Wunderlich nur, daß Mohrmann in Gegenwart der beiden Damen auffallend wortkarg ist, mitunter beinahe unhöflich gegen Edith. Christel berührt es unangenehm, sie glaubt zuweilen, es sei nötig, ihn zu entschuldigen. „Er muß an so vieles denken, Fräulein Edith, und zu Galanterien hat er sein Lebtag keine Anlage gehabt,“ sagte sie einmal.

„Ich weiß nicht, was Sie wollen, Frau Christel,“ antwortet das junge Mädchen. „Scherwenzeln mag ich nicht leiden und, wozu sollte er denn auch galant sein? Es liegt gar kein Grund vor!“ und dabei verzieht sich das Gesichtchen und sieht geradezu hochmütig aus.

Auch heute ist also Edith wieder in Christels Zimmer geschlüpft. Sie hat einen Korb in beiden Händen, dessen Inhalt sie lachend auf den Teppich schüttet, einen bunten Inhalt, lauter Puppen, nichts wie Puppen, große und kleine. „Da, Frau Christel,“ sagt sie, „die wollen wir den Gutskindern zu Weihnacht verehren; nur eine habe ich zurückbehalten, die hebe ich auf für meine Kinder.“

Christel muß lachen. Das junge Mädchen ist reizend, wie sie das so sagt, mit drolliger Ernsthaftigkeit auf dem Teppich sitzend unter den Schreikindern und Balldamen.

„Warum lachen Sie denn?“ fragt sie, und die von eigentümlich langen Wimpern verschleierten strahlenden Augen sehen zu Christel empor. „Sie denken wohl, ich werde mich nicht verheiraten? So etwas! Aber sicher werde ich es thun – was denn auch sonst? Ehe ich ins Fräuleinsstift gehe – lieber lege ich mich irgendwo in den Schnee und lasse mich totfrieren.“

„O, Fräulein Edith, freilich werden Sie heiraten,“ beschwichtigt Christel, noch immer lächelnd, „vielleicht haben Sie gar schon einen, den Sie – –“

„Natürlich habe ich den, aber heiraten werde ich ihn höchstwahrscheinlich nicht,“ unterbricht Edith von Ebradt aufstehend und den bunten Haufen ihrer Lieblinge mit der kleinen Fußspitze zusammenschiebend.

„O, das wäre schade!“

„Je – nun, das ist richtig,“ erklärt das junge Mädchen, „aber ich kann doch nur einen nehmen, der Geld hat, das ist mir von Mama gesagt worden, solange ich überhaupt hören und sehen kann; und sie hat recht, darauf bin ich angewiesen, und das ist nun mal so. Wie Mama darf ich’s nicht machen, das gäbe ein neues Elend; die hat’s mit aller Gewalt durchgesetzt, den Mann zu kriegen, den sie liebte, und er war arm. Wenn man aber Geld hat, kann man nie ganz unglücklich werden. Meine Freundin, Emma von Zobel, und ich, wir wollen überhaupt nur einen, der sehr reich ist.“

Christel bleibt bei dieser nüchternen Auffassung des bildschönen Kindes, das wie die verkörperte Poesie selbst aussieht, die Antwort in der Kehle stecken. „Ah,“ sagt sie endlich, „wenn Sie so sprechen, dann lieben Sie ja auch keinen – wenn man liebt, denkt man anders.“

„Doch, ich liebe den Edi von – wie er heißt, brauchen Sie aber nicht zu wissen, Frau Christel; ich liebe ihn sogar sehr!“

„Nein, liebes Fräulein Edith, das bestreite ich.“

„Sie denken wohl, weil ich nicht weine und wie ein Gespenst umherwandle vor Kummer? O, das macht nichts aus, ich liebe ihn auf meine Weise, Frau Christel. Treue habe ich ihm nicht geschworen, das hasse ich; sie kann ja nur in den seltensten Fällen gewahrt werden. Ich fühle mich also völlig frei und brauch’ nicht, wie üblich, Trübsal zu blasen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0070.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2018)