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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Aber endlich hält sie es und die Augen senken sich nieder zum Lesen. „Nur Gewißheit!“ murmelt sie, „ich kann so nicht mehr leben – ob er mich verstoßen will, wie Josephine verstoßen ward?“ Und wie sie nun liest, fällt jedes Wort gleich dem Tropfen eines starken Giftes in ihr armes jammerndes Herz.

 „Lieber Karl!

Die Einladung zur Taufe Deines Jungen ist in unseren Händen. Ich werde meine Frau überreden, ihr zu folgen – ohne mich. Entschuldige mich, Karl, gönne mir die paar Tage, wo ich nicht Komödie zu spielen brauche, meine Kräfte dazu sind fast am Ende; und was es werden soll in der Zukunft, das weiß ich nicht. Ich wollte, ein Blitzstrahl käme und machte ein Ende.

Es ist so schmählich, wenn ein Mann selbst – erschrick nicht, lieber Alter, laß mich es aussprechen gegen Dich, es ist mit so wenig Worten gethan. Du weißt, ich wählte Christel nicht aus himmelstürmender Liebe, und ich wähnte, in der Leidenschaft für die Fränze habe sich mein Herz, wie man so sagt, ausgeblutet. – Siehst Du, Alter, das ist ein Irrtum gewesen, die Liebe ist über mich gekommen, jäh wie ein Sturm!

Die Geschichte mit der Fränze damals? Mein Gott, sie verhält sich zu der, die mich jetzt gepackt hat, wie Aprilwetter gegen ein Gewitter im Hochsommer. Stelle Dir die Situation vor: da unten wohne ich mit Christel, meiner guten, braven Christel, die mich hegt und pflegt wie eine Mutter ihr Kind, die Tag und Nacht an ihre Wirtschaft denkt, die nur für mich lebt und für Wartau, und oben – über uns – da wohnt die andere, und die schlanke Gestalt huscht die Treppen hinunter, die süße Mädchenstimme dringt in mein Zimmer, und neben Christel steht plötzlich das schönste Geschöpf und lacht mich an, lieb und vertraut, als kennte ich sie seit Ewigkeit. Das Genre der Fränze ist’s, aber in tausendmal veredelter Form, ohne jene Gassenmädchenmanieren, ohne die soubrettenhafte Koketterie und ohne die kleinbürgerliche Sentimentalität – Edelblut in des Wortes bester Bedeutung.

Ich sah sie beim Begräbnis des alten Barons zum erstenmal; über den Sarg hinweg trafen sich unsere Blicke – wie so oft seitdem!

Ich weiß, was Du sagen wirst, Karl: Du bist verrückt! Wirf diese dummen Gedanken aus deinem Hirnkasten und die gefährliche Schönheit aus dem Hause! Lebe recht und schlecht mit deiner prächtigen Christel weiter! – Ja, lieber Alter, das habe ich mir bisher alle Tage auch gesagt, aber – wenn’s nur ginge! Wenn’s nur nicht Dinge gäbe in der Welt, die stärker sind als die Kraft des Menschen!

Fräulein Tonette von Wartau hat, laut Kaufkontrakt, so lange sie lebt, das Wohnungsrecht oben im Schlosse. Soll ich hinaufgehen und sagen: ‚Schicken Sie gefälligst Ihre Nichte fort!‘ Soll ich Wartau verkaufen und mit Christel auswandern? Auch das ist unmöglich, ohne mich finanziell schwer zu schädigen. Ich bin am Ende mit meiner Weisheit und müde von dem Kampf, den ich mit mir selbst kämpfe, ich kann nicht länger so fortleben, Karl!

Du kennst mich, Alter; Du wirst mir glauben, daß ich Christel zu kränken standhaft vermieden habe bisher. Ich flüchte förmlich vor Edith, bin unfreundlich, finster zu ihr, aber ich meide auch meine Frau; ich kann ihre Thränen nicht sehen, nicht sehen, wie sie sich grämt über mein verändertes Wesen; ich thue, als verstehe ich sie nicht. Ich flüchte hier hinauf in ein Versteck, von dem sie nichts weiß, und da, da kann ich endlich aufatmen. Sie beobachtet mich oft und lange, als wolle sie mir bis auf den Grund der Seele schauen. Nie vergesse ich es, wie sie einmal unversehens in Fräulein von Wartaus Zimmer trat und mich dort fand; Edith hatte mir eine Strähne Wolle über die Arme gelegt und wickelte ein Knäuel davon. Ich schämte mich unter dem Blick dieser großen erstaunten Augen wie ein Schulbube, der beim Naschen ertappt wird, und dann packte mich doch eine Wut auf sie, eine Wut – ich hätte am liebsten einen Zank vom Zaune brechen mögen, nur damit endlich meine Qual ein Ende habe. Aber die unbegrenzte Hochachtung vor ihrem schlichten geraden Charakter läßt mich stumm bleiben; ich würge alles hinunter, fühle mich krank davon und gehe doch ruhig neben ihr, als sei nichts gewesen, als sei alles ganz selbstverständlich.

Ich glaube fast, Christel hält mein verändertes Wesen für einen Vorwurf gegen ihre Kinderlosigkeit. Sie hat schon öfter darauf hingedeutet. Ich höre sie nachts zuweilen bitterlich weinen, und von ungefähr erfuhr ich durch Fräulein von Wartau, daß sie sich mit dem Gedanken getragen hat, mir einen ihrer Neffen als Adoptivkind zu Weihnacht zu schenken!

Du kannst dir mein Entsetzen vorstellen – ein fremdes Kind! Wenn man sich im Leben so geschunden hat wie ich, um eine eigene Scholle zu erwerben, und dann soll alles für ein Wesen geschehen sein, bei dessen Anblick sich nicht mehr im Herzen rührt als das oberflächliche Wohlgefallen, mit dem man schließlich jedes Kind ansieht! Ein Geschöpf, das schon angeerbte Eigentümlichkeiten hat, die einem bei den Eltern keineswegs sympathisch sind, zum Beispiel bei dem kleinen Anton die Handbewegung, mit der sein Vater mich von der Kanzel herab ärgert, das soll man so ohne weiteres an das Herz schließen, an ihm freudig thun, was man für das eigene Kind gethan hätte? Der Gedanke macht mich rasend!

Ich fand glücklicherweise Gelegenheit, Christel meine entschiedene Abneigung gegen Adoptivkinder, Söhne und Töchter, auszusprechen. Ich bemerkte auch, wie schwer es ihr wurde, den Plan aufzugeben, sie thut mir leid, so leid! Mir ahnet ja, was sie empfindet, aber ich bin nicht imstande, ihr zu helfen, denn ohne Edith – – ich kann so nicht weiter leben, und es wäre das beste – – “

Hier bricht der Brief ab.

Durch das Zimmer schwankt eine Frau und reißt die Fenster in dem Turme auf, als sei tödliche Luft in dem Raume, und mit den Händen das Fensterkreuz packend, steht sie da und schaut hinüber, wo gegen den erlöschenden Abendhimmel die rote Glut der Feuersbrunst lodert. Plötzlich geht ein Wanken durch diese große aufrechte Gestalt, mit einem Aufschrei sinkt sie zu Boden, faßt sich verzweifelnd in die Haare, und ein thränenloses hartes Schluchzen kommt aus ihrer Brust.

Wie lange sie so gelegen, sie weiß es nicht; es ist tiefe Dunkelheit um sie her, als sie emporfährt – eine Hand tastet und drückt an der Klinke, und sie rutscht auf den Knieen ganz nahe an die Vertäfelung des erkerartigen Turmes, der ein kleines Gemach bildet. Dann trifft ein Lichtschimmer ihre Augen und in diesem Schein sieht sie Anton – Anton, der in einer Hand das Licht trägt, dessen anderer Arm schlaff herunterhängt und dessen blasses Gesicht von Schmerz verzerrt ist. Er geht zum Schreibtisch, stellt das Licht hin, rafft das Briefblatt empor und birgt es in die Tasche seines Rockes; dann erfaßt er wieder das Licht, und mit einem unterdrückten Stöhnen geht er der Thüre zu.

Christel liegt im Erker schwer atmend auf den Knieen und starrt ihm nach, ohne sich zu rühren. Er wird sie einschließen, aber – was thut’s!

Doch auf einmal an der Schwelle schwankt der große Mann und bricht zusammen. Christel hört, wie sein Kopf gegen die Thüre schlägt, und hört, wie der Leuchter mit dem verlöschten Licht über die Gipsfliesen des Vorsaales rollt. Im nächsten Augenblick hat sie sich aufgerafft und ist neben ihm.

„Anto!“ jammert sie und tastet nach seinem Kopf. Und dann kommen auch schon Leute die Treppe herauf, Heine, der Arzt und ihr Schwager, die Diener und einige Mägde.

„Na ja, so geht’s,“ grollt der alte Doktor, „wenn einer durchaus auf seinem Willen besteht. Er mußte partout noch einmal hinauf, könnte nur er besorgen, na – da haben wir die schönste Ohnmacht! – Angefaßt, meine Herren! Da sind Sie ja auch, Frau Christel, wir suchten Sie bisher wie eine Stecknadel! Ihr Gatte hat einen gehörigen Eichenbalken auf die Schulter bekommen,“ schilt er weiter, „wer hieß ihn auch, so voran zu sein. – Doch wie Sie aussehen! Beruhigen Sie sich, ans Leben geht das nicht, aber ein zersplitterter Schulterknochen ist auch kein Zuckerlecken gerad’. So! Auf! Vorsicht, daß ihr nicht stolpert!“

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0108.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2020)