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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Nein! Aber nein! Nein! Keine Spur!“ schreit Paul, läßt die Eltern los, zieht oder reißt vielmehr diesen Jemand an sich – und zeigt ihm dann, unbekümmert um die Zeugen, auf eine höchst einfache, eindringliche und verständliche Weise, wie er – nicht verliebt ist.


6.

Der Oktober ist ins Land gezogen, und unser Brautpaar ist nun sturm- und wetterfest, hat die mannigfachen Stürme und Leiden dieses Standes durchgekostet und befindet sich merkwürdigerweise noch immer recht wohl und zufrieden. Die Geschichte hat sehr schön angefangen. Kaum hatte damals im kleinen Mariaschutzer Gaststübchen der Vater dem ungestümen Freier sein Kind zugesprochen, da hat sich der auch um weiter nichts gekümmert, hat die neugebackene Braut genommen und mit sich fortgezogen, ins Freie hinaus. Mama hat dem Vater abgewinkt (sie meint, wenn sie ihm das Kind fürs Leben anvertraut, warum nicht für eine Stunde?), und so waren sie denn allein. Er, Paul nämlich, hat weder Scheu noch Scham gekannt, hat den Arm um sie gelegt, und wer immer ihm in den Weg kam, den hat er angelacht.

„Meine Braut, Herr Westermayer!“ hat er dem vorbeikommenden Wirt zugerufen, hat aber die Gratulation nicht abgewartet, sondern ist weiter, immer weiter geeilt mit ihr, die ihm lachend, willenlos, tief errötend und wunderhübsch aussehend, gefolgt ist. Vorüber an den kaffeetrinkenden, zur Salzsäule erstarrenden Sommerfrischlern; vorüber an weißhaarigen Bauernkindern, die er anhält und mit kleinen Silbermünzen beschenkt – in den Wald, in seinen Verlobungswald hinein! Dort zieht er sie weiter, immer rascher, immer toller, und endlich kommt er ins laute, übermütige Singen, wie ein freiheitstoller Schuljunge – und sie lacht dazu, und lacht und lacht – denn sprechen hat sie nicht können. –

So weit, wie gesagt, ging alles schön und gut. Lang hat’s nicht gedauert, denn Paul mußte wieder ins langvernachlässigte Comptoir zurück. Da gab’s denn die erste Trennung. Sie waren sehr ruhig, sehr verständig und gefaßt und ließen den Kopf nicht hängen – aber ein sonderbares Gefühl war’s doch – ein sehr sonderbares Gefühl! Es handelte sich übrigens nur um acht Tage, und schließlich, wozu sind denn Feder, Tinte und Papier auf der Welt? … Nach acht Tagen sind auch die Freisingers in die Stadt zurück, und zwar unter der schützenden und sorgenden Begleitung Pauls, der eines schönen Tages vor der erstaunten Familie stand, weil er es nicht über sich gewinnen konnte, seine drei schutzlos und verlassen den Gefahren und Beschwerden einer Semmeringfahrt auszuliefern. Ob Emma unter solchen Umständen sehr viel von der Aussicht gehabt haben mag? …

Zu Hause hat eine große und feierliche Vorstellung stattgefunden. Da waren nämlich die drei Freisingerschen Dienstboten zu einer feierlichen Gruppe vereinigt, alte, erprobte Hausmöbel, die in dem Punkt „Bräutigam von der Fräul’n Emma“ durchaus keinen Spaß verstanden und nicht wenig darauf brannten, das neue Familienglied kennenzulernen. Die Prüfung war rigoros, aber Paul bestand mit Auszeichnung. Dann wurde er im Triumphe durch das ganze Haus geführt, trotzdem inzwischen die Suppe kalt zu werden drohte. Die Wohnung glänzte schon in ihrer vollen Winterschöne, sie glänzte überdies noch in echt Freisingerscher Sauberkeit, und der Eindruck, den sie auf das neue Familienmitglied machte, äußerte sich zunächst darin, daß er nichts sprach und seine Suppe vollends kalt werden ließ.

„Dummkopf!“ lautete sein stummes Selbstgespräch, „was willst du eigentlich mit deinem dummen Geld Leuten bieten, die so wohnen!“

Er hatte nicht ganz unrecht; die Wohnung war ein Schmuckkästchen und im Freundeskreis eine Art Berühmtheit. Sie war, wie die Freisingers selber waren: sie war schlicht und echt. Da gab’s keine Ueberflüssigkeiten und keine sogenannte malerische Unordnung, alles war vornehm und ungemein behaglich. Große, helle Räume (das Haus, auf der Schottenbastei gelegen, war noch ziemlich neu), gediegene, ein wenig unmoderne Möbel, prächtige Perser Teppiche, gar keine Nippsachen (auch in Emmas Zimmer nicht), schöne Stiche überall, hier und da ein gutes Oelbild, eine geschmackvolle Handarbeit aus Emmas kunstreichen Händen, eine Menge grüner Blattpflanzen, und alles am rechten Platze, daß man das Gefühl hatte, es könne gar nicht anders sein.

Nun, der verstimmte Bräutigam gewann in kurzer Zeit Sprache, Humor und Appetit wieder, und das Mahl verlief so, wie die Mariaschutzer Diners und Soupers alltäglich verlaufen waren – also nicht eben ungemütlich. Paul that dem sehr gelungenen, aus vier Gängen und Nachtisch bestehenden Mittagsmahl die größte Ehre an, ein Umstand, der Mama, Tochter und das aufwartende Mädchen mit Stolz und Freude erfüllte. Nach Tische machte er sich beim Auspacken sehr nützlich und wurde dann zur Belohnung in Emmas Wohnstübchen geführt. Sie hatte nämlich ihr großes Zimmer in Schlafraum und Boudoir abteilen lassen. Er bekam natürlich nur letzteres zu sehen, und es wurden ihm alle Schätze des herzgewinnend freundlichen Kabinettchens vorgeführt und erläutert: die Bücher, Bilder, Blumen, Sammlungen, und so weiter. Ihm dünkte alles sehr merkwürdig und interessant, am meisten freilich, nach wie vor, ihre blauen Augen und frischen Lippen. Und so verlief denn dieser Tag still, philiströs, aber auch, wie er sich selber sagte, ganz lächerlich glücklich.

Dank dem Umstand, daß der beiderseitige Freundes- und Verwandtenkreis noch auf dem Lande weilte, war ihnen noch eine Reihe so guter Tage, oder eigentlich Abende beschieden, die nur den Fehler großer Kürze hatten – ein Fehler, der bekanntlich allen guten Dingen anhaftet. Dazwischen wurde auch über „Ernstes“ gesprochen. Die Hochzeit war, nach vielen ernsten Beratungen, auf den zehnten Januar angesetzt worden. Paul hatte rebellieren wollen, war aber durch Vernunftgründe, und noch durch andere Gründe, die blaue Augen und streichelnde Hände hatten, beschwichtigt worden. Vor dem November wollte der Papa, der einen altmodischen Abscheu vor einem kurzen Brautstand hatte, absolut nichts vom Heiraten wissen; im November wieder konnte Paul nicht vom Geschäft fort. Eine Hochzeit im Dezember ging auch nicht gut, denn Paul hatte großartige Reisepläne, die sich weit über Weihnachten erstreckt haben würden, und am Weihnachtsabend nicht beisammen zu sein, das hätte den drei Freisingers das Herz gebrochen. Der zehnte Januar aber war Mamas Geburtstag und zugleich auch ihr Hochzeitstag, und dieser Umstand entschädigte Emma ein wenig für die Wartezeit, die auch ihr lang genug erschien. Paul aber, der seine ungeduldige Sehnsucht kaum mehr bezwingen konnte, fand die Zeit bis zum Januar nicht „lang“, sondern einfach endlos. Wohl hatte er in seinem Leben schon so viel genossen, so viel erlebt, Schönes, Interessantes, Lustiges, Sensationelles; nur Glück, das hatte er eigentlich seit den Kinderjahren nicht mehr gekostet, und auch damals war’s wohl nicht das rechte und eigentliche gewesen. Und nun war das seltene Ding auf einmal bei ihm und umfing ihn mit so warmen, weichen Armen, daß er eigentlich nicht das Herz hatte, zu rufen: „Weiter, weiter! Es soll noch besser kommen.“

Er wußte, daß er durch grüne, duftende Fluren in ein noch reicher blühendes Land schritt. Es zog ihn wie an Ketten hinüber, und hielt ihn doch wieder mit sanften, leisen Banden hier fest … Und so, in den kleinen Ereignissen und Freuden, die jeder neue Tag brachte, verging denn auch ihm diese schreckliche Wartezeit im Grunde recht leidlich.

Unterdes steckten die Damen tief in Ausstattungssorgen. Frau Doktor hatte als sorgsame Mutter schon manches schöne und gediegene Stück vorbereitet, aber die Verhältnisse waren gründlich andere geworden; wenn sich Emma vorläufig auch noch so sehr und mit einem gewissen Trotz als Bürgermädchen und Tochter des Mittelstandes aufspielte, es ließ sich einmal nicht ändern: sie kam in die hohe Finanz hinein und mußte dem Rechnung tragen. Und schließlich, den Bürgerstolz in allen Ehren, aber welche junge Evastochter hat ernstlich gegen alte Brüsseler Spitzen und die tausend feinen Zierlichkeiten einer eleganten Ausstattung etwas einzuwenden? …

Die erwachende Saison brachte denn endlich auch Wolken und Dornen in das sonnige kleine Königreich Brautstand. Die Verlobungsanzeige hatte sowohl in Pauls, als auch in Emmas

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0123.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2020)