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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

und Biskuit gefüttert. Das dauert wie gesagt drei Tage – drei sehr gute Tage – und dann kommt ganz plötzlich, ohne irgend eine auffindbare Ursache, ein Rückfall. Oder eigentlich, einen Rückfall kann man’s nicht nennen; es hat ein total anderes Gesicht als jene erste Entzündung, es tritt ganz anders auf – es ist, wie wenn ein Orkan über einen jungen, starken Baum dahinfährt. Die Eltern in ihrer treuen Liebe nehmen still und zuversichtlich den neuen Kampf auf und wehren mit starken Armen Dem, der hereinsieht, den Einlaß. Die Aerzte, die berühmtesten Wiens, kommen jede Stunde, thun, was sich eben thun läßt, schauen sich die Familie an, wollen reden – und bringen nichts über die Lippen. Und Paul? – – –

Paul sitzt jetzt, wie er’s früher so heiß gewünscht hat, drin bei ihr, denn daß er nicht hinein soll, davon ist mit einem Male nicht mehr die Rede. Er hat ihre heiße Hand und läßt sie den ganzen Tag nicht los. Wenn sie ihn in lichten Augenblicken ansieht, so lächelt er ihr zu. Wenn die Eltern ihm über das Haaaar streichen, ihn bitten, so sanft, als wenn er ein krankes Kind wäre, sich doch drin im anderen Zimmer ein wenig aufs Sofa zu strecken, so küßt er ihre Hände und lächelt ihnen zu. Sonst aber sitzt er, ihre Hand in der seinen und manchmal an seiner Wange, und schaut immer auf das Gesicht in den weißen Kissen, das ihm jede Stunde etwas kleiner erscheint. Oder er sieht mit großen, staunenden Augen auf die Eltern, die so ruhig und geschäftig um das Krankenbett schalten, und wenn die Aerzte da sind, wirft er auf sie scheue Blicke, die gleich wieder, wie schuldbewußt, den Boden suchen. So sitzt er stundenlang, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, und all sein Leben hat er in seinen Augen.

Er glaubt, er träumt. Er glaubt, es ist nicht möglich, daß man vor zwei Tagen noch ein glücklicher Mensch war und daß sich auf einmal eine Spalte im Boden geöffnet hat, durch die man in einen Abgrund sieht. Er glaubt’s nicht. Er will nicht. Er kann nicht. Nein – nein – nein!

Und dann schaut er wieder auf das Gesicht da in den Kissen, das kleine, wächserne mit den geschlossenen Augen. Und er greift sich an die Brust und ringt nach Luft.


10.

Der Diener hat ihn ins Sprechzimmer des Doktors geführt, hat ihm Fauteuil und Zeitung zurecht gerückt und gebeten, sich nur ein paar Minuten zu gedulden; der Herr Hofrat sei eben erst aus der Klinik gekommen. Dann hat er geräuschlos das Zimmer verlassen. Paul, noch atemlos, bleibt stehen, stützt sich auf den Tisch und schaut mit schwarzumrandeten Augen nach der Thüre.

Draußen – nichts – kein Laut. Es ist so still im Zimmer, so still. Nur die Wanduhr tickt. Ihm wird auf einmal leicht und friedlich. Wird denn die Thür dort aufgehen? Wird der Mann dastehen und ihm antworten? Ihm Gewißheit geben – so oder – so? Er kann sich’s nicht vorstellen. Es ist so still, so heimlich, so warm im Zimmer – so ruhig – so gut! – – –

Ah – aber jetzt – jetzt kommt’s! Er steht und horcht mit geballten Fäusten. Nein – nichts – es geht vorüber. Ein zitternder Atemzug hebt seine Brust: Gott sei Dank! – Aber die Luft in dem Zimmer – so schwül, so schwer – man kann nicht atmen. Und ein Lärm – von dieser Uhr – und sein Kopf – dieses Sausen und Hämmern – man meint, er zerspringt! – –

Warten – er hat nie gut warten können. Sie hat sich oft darüber gekränkt. Aber jetzt – jetzt meint er, er könnt’ noch lang’ – noch lang’ so stehen. So dumm! So albern! Ob jetzt oder in fünf Minuten oder in zehn – kommen wird er! Dastehen wird er! Und ob jetzt etwas früher oder später – das ist ja so einerlei – da’s ja doch sein muß – und – ach, und die Hitze! Nicht zum Ertragen! – – – –

So ein Elend! So eine Folter! Man meint, man wird ein Narr! Das bissel Glück – das muß man ordentlich bezahlen. Ja – gut war’s! Süß war’s! Lieb und gut und süß! – Aber jetzt – so dastehen und zappeln – nein! Das ist zu viel! Dann lieber kein Glück kosten! Dann lieber gar nicht leben.

Aber – täuscht er sich nicht am Ende? Muß es – muß es denn g’rad’ schlecht – es könnt’ ja doch – es ist ja vielleicht doch nicht unmöglich – o, Herrgott! Herrgott!

Und bei dem bloßen Gedanken geht ihm glühheiß ein Strom von Glück und Leben durchs Herz.

Da, ein Geräusch – er sieht auf – und der Hofrat steht mitten im Zimmer. Paul will hin zu ihm – und kommt nicht vom Fleck. Er macht eine krampfhafte Anstrengung, zu sprechen – und bekommt ein heftiges Zittern. Und der Hofrat läßt ihn niedersitzen, giebt ihm zu trinken, netzt ihm die Schläfen. Und schließlich kann er doch wieder reden. – 00000000000000000000

Eine Stunde später tastet sich ein Mann mühsam und schwerfällig die Treppe zur Freisingerschen Wohnung hinauf.

Der Mann ist Paul Weilheim.


11.

Das Mädchen, das ihm draußen im Vorsaal Hut und Rock abnimmt, hat ihn erst nicht erkannt. Dann hat sie berichtet, das Fräulein sei wach und habe nach ihm gefragt. Jetzt ist er drin (man hat sie in das Schlafzimmer der Eltern gebettet, weil’s so groß und luftig ist) und kniet vor dem Bett. Eine grün verhängte Lampe brennt mit schwachem Schein – und so ist den Alten nichts an ihm aufgefallen.

„Zu thun gehabt?“ fragt sie nach der Begrüßungspause, und weil ihm die Stimme noch nicht gehorcht, so nickt er nur. „So blaß,“ meint sie mitleidig und streicht ihm mütterlich über die Wange. „Du mußt heute gut ausschlafen. Mir geht’s ja besser.“ Statt aller Antwort schmiegt er ihren Kopf noch etwas enger an seine Schulter. Sie ist’s zufrieden und ein paar Augenblicke lang herrscht tiefes Schweigen um die zwei.

Da richtet sie sich auf und sucht mit den Augen: „Wo sind …“ Er zeigt ihr, daß die Eltern in einer entfernten Ecke des sehr großen Zimmers sitzen – sie gönnen ihnen auch jetzt noch das Plauderstündchen. Sie legt sich wieder zurecht und – „Paul!“ klingt es wie ein Hauch an sein Ohr.

„Ja, Kind!“ sagt er, denn jetzt geht’s wieder mit dem Sprechen, und beugt sich tiefer, damit sie’s bequem hat.

„Paul – früher – wie ich aufgewacht bin – du warst fort – und die Eltern sind da gesessen – ganz allein – – da ist mir’s eingefallen – Paul, bitte – nicht wahr – du bleibst bei ihnen – – – immer – und bist gut zu ihnen – immer – nicht wahr – immer?“

„Ja,“ kommt seine Antwort wie aus weiter Ferne.

„Und, Liebster, Goldener“ – er fühlt seinen Kopf, von schwachen Händen herabgezogen und ihre Wange an seiner – „sei doch nicht so traurig. Ich war ja so glücklich. So riesig glücklich! Und“ – immer leiser – „ich hab’ dich ja so unendlich lieb – du weißt gar nicht – wie lieb. – Ich hab’ mich nie getraut – es zu zeigen – du hast gewiß oft gedacht – sie läßt sich nur lieben. Aber halbe Nächte hab’ ich wach gelegen – und hab’ mir jedes Wort – jeden Blick zurückgerufen – auch ganz gleichgültige Sachen – und war so froh. – Und noch jetzt – wenn ich denk’, wie du bist – so lieb – so gut – – noch jetzt – bin ich glücklich. Und tausend Dank für alles! Es war ja doch der Mühe wert. – Nicht wahr, Herz – nicht wahr?“

„Was sprichst du denn da?“ sagt er mit einer Stimme, die ihm völlig fremd aus der Kehle kommt – und dabei tanzen schwarze Schatten vor seinen Augen und auf seiner Stirn stehen die kalten Tropfen. „Was sprichst du denn da? Du bleibst ja doch bei mir!“

„Vielleicht – ich weiß nicht,“ meint sie und sieht mit einem hilflos traurigen Blick vor sich hin.

Und er – er kann ihr nichts mehr sagen. Er findet kein Wort mehr für sie, keine barmherzige Lüge, nicht einmal ein Lächeln. Er faßt sie nur fester noch in seine Arme, und dabei so sanft, wie eine Mutter ihr krankes Kind; beugt sich über sie, ganz tief, daß Wange an Wange ruht, schließt die Augen und sucht mit den Lippen ihre kalte Stirne. So bleiben sie – lang’ – lange Zeit – sind ganz still – und haben sich doch verstanden.


12.

Ein stilles, verhängtes, nach scharfen Essenzen duftendes Zimmer. Ein weißes Bett mit einem blassen, schlummernden

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0127.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2020)