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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)


Kind. An dem Bett drei blasse Menschen, die nicht sprechen, die sich nicht rühren und die nur immer auf das Kind schauen.

Manchmal wacht sie auf. Sprechen kann sie nicht; aber ihre Augen sind noch voller Liebe. Sie schaut jedes von den dreien der Reihe nach an und sagt jedem etwas Gutes mit den Augen. Und sie knieen um das Bett, beugen sich über sie, flüstern ihr zu und jedes nimmt, was es g’rad’ bekommt – eine Hand – eine Flechte – ein Stückchen Decke. Und dann schläft sie wieder ein.

Paul steht dann wohl leise auf und geht zu den Alten. Er neigt sich über sie, streicht ihnen über das Haar, bringt ihnen weiche Kissen. Manchmal führt er sie ins andere Zimmer. Viel sprechen kann er nicht – aber er bittet, sie möchten sich ein wenig hinlegen; er bleibt bei ihnen, bis sie eingeschlummert sind. Dann geht er wieder hinein zu ihr, ganz leise und ganz schnell. Kniet vor dem Bett nieder. Beugt den Kopf vor und schaut auf das Kind, preßt die Hände zusammen – kniet und wartet – schaut unermüdlich, unverwandt – auf sein blasses, liebes Kind! …


13.

So viele Menschen waren heute in der Wohnung – Massen, Massen schwarzgekleideter Menschen – aber jetzt ist alles leer. Und still ist’s – grabesstill. Draußen in der Küche sitzen die Leute beisammen, blaß, verwacht, rotäugig, und wagen kaum zu flüstern. Die Zimmerflucht ist hell erleuchtet, alle Thüren offen – aber kein Mensch zu sehen. Nur das letzte Zimmer in der Front – das Schlafzimmer – ist dunkel – und dort sitzen die drei.

Von der Straße fällt Laternenschein in das große Gemach – die Umrisse der drei Gestalten sind gerade erkennbar. Sie sitzen alle um ein Bett – ein ganz leeres Bett, das man seiner Decken und Kissen beraubt hat.

Zusammengekauert sitzen sie und starren in die Dunkelheit. Sie weinen nicht – sie haben’s wohl verlernt – sie sprechen nicht, ja, augenblicklich leiden sie vielleicht gar nicht. Sie sind müde und gebrochen. Sie ruhen vielleicht aus.

Ihr werdet wieder weinen können, glaubt’s nur, ihr armen Eltern! Und dann werdet ihr in dem Gedanken, der jetzt brennende Qual ist – in dem Gedanken an sie – nicht etwa Trost finden, sondern einfach euren Lebensinhalt. Dann wird’s euch einfallen, wie sie war – von klein auf – und wie ihr drei miteinander gelebt habt. Dann werdet ihr wissen, daß sie nicht umsonst da war – daß sie Freude genommen und gegeben hat mit vollen Händen; daß sie Sonne war – nicht nur euch – sondern allen, die sie sahen; daß sie’s immer gut, immer warm gehabt hat – und zuletzt das reichste Jungfrauenglück. Und dann werdet ihr weinen – so reine, lindernde Thränen! – und werdet euch sagen: „Was wollen wir denn? Sie war ja glücklich – und den Schmerz – den haben ja nur wir!“

Und du – armer Betrogener, der das Glück nur hat kosten dürfen und dann wieder hinaus mußte, wo’s kalt ist und einsam – du wirst auch wieder leben lernen. Das Leben ist stark und nimmt dich mit und fragt nicht, ob du willst. Du wirst nicht kalt, nicht hart und bitter werden. Einsam wirst du nun sein – wie du’s warst. Und weil du das Glück gekannt hast, so wirst du’s wieder suchen. Aber oft – oft wirst du an sie denken – an sie – an die Junge, die Blonde, die Fröhliche – an die Tote – – und dann wirst du, reicher Mann, sehr arm sein.

Jetzt steht er auf – langsam, schwerfällig – und tastet sich zu den Eltern hin. Tritt zwischen sie, kniet nieder und nimmt ihre Hände.

„Ihr müßt euch jetzt mit einem Kind begnügen,“ sagt er, sehr leise, sehr mühsam. Antwort bekommt er nicht; aber seine Hände fühlen einen schwachen Druck. Dann nach einer Weile: „Sie hat mich einmal gebeten, ich soll bei euch bleiben. Sie hätt’ nicht zu bitten brauchen. Aber ich – ich möcht’ jetzt euch bitten – daß ihr mich – – – nur ein wenig – – denn sonst weiß ich nicht, wie ich’s aushalt’.“

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Es ist still im Zimmer – totenstill. Sie sitzen und starren ins Dunkel. Aber sie sitzen jetzt eng, ganz eng bei einander, umschlingen sich und halten sich an den Händen.



BLÄTTER UND BLÜTEN.


Christenschulen in China. (Zu dem Bilde S. 129.) Mit dem Schulwesen ist es in dem großen „Reiche der Mitte“ heute noch gar übel bestellt. Staatsschulen giebt es nur wenige, der Staat kümmert sich auch kaum um die Erziehung der Kinder, und der ganze Unterricht liegt in den Händen von Privatlehrern, welche von den verschiedenen Gemeinden, von Zünften, Familiengruppen oder einzelnen Familien für kärglichen Lohn, zwei- bis fünfhundert Mark im Jahre, angeworben werden. In dieser Beschränkung freilich besitzen in China auch kleine Dörfer ihre Schulen, und es ist sehr anerkennenswert, daß es sogar die ärmsten Familien für ihre Pflicht erachten, ihre Söhne notdürftig lesen und schreiben und die Grundlehren des Konfucius lernen zu lassen. Solche Schulen hat es in China schon vor Jahrtausenden gegeben, als in den weiten Urwäldern unseres hochcivilisierten Mittel-Europa noch wilde Völkerstämme umherschweiften und es noch gar keine Staatswesen gab. Aber die chinesischen Schulen sind auf dem damaligen Standpunkte zurück geblieben und wie vor Christi Geburt, so besteht die Schulerziehung der chinesischen Jugend heute noch im Auswendiglernen der ihnen großenteils unverständlichen Lehren der alten Klassiker ihres Volkes.

Für sie giebt es keine Kindergärten, Abc-Hefte, Bilderbücher, in welchen sie durch Anschauung die Bedeutung der einzelnen Wörter kennenlernen; es giebt auch keine Sonntage, Schulferien, Prüfungen und Prämien; man versucht nicht, den Kindern den Schulbesuch leicht und angenehm zu machen, mit Gesang, Turnübungen und Spielen abzuwechseln und ihnen, ihrer Jugend entsprechend, die erforderlichen Kenntnisse „spielend“ beizubringen. Die bezopften und bebrillten Herren Schullehrer beginnen etwa in derselben Weise, als wollten wir unseren Hänschen und Gretchen, die zum erstenmal in ihrem Leben in die Schule geführt werden, gleich einen Klassiker in griechischer Sprache in die Hand geben und ihnen die Aussprache jedes einzelnen Wortes, Satz für Satz, Seite für Seite, das ganze dicke Buch von Anfang bis zu Ende beibringen, ohne ihnen aber die Bedeutung der Buchstaben oder der Wörter zu erklären. Erst wenn sie das ganze Buch auswendig gelernt haben, folgt die Erklärung des tiefen, dem kindlichen Gemüte unverständlichen Sinnes. Die Sprache der aus früheren Jahrtausenden unverändert bis auf den heutigen Tag erhaltenen Lehrbücher ist ja eine ganz andere als jene, welche die chinesischen Hänschen und Gretchen in ihrem Vaterhause zu hören bekommen; dazu hat die chinesische Schrift keine Buchstaben; jedes Ding, jeder Begriff hat sein eigenes hieroglyphisches Zeichen, weniger anschaulich und desbalb unverständlicher, als es die ägyptischen Hieroglyphen sind, und derartiger Zeichen giebt es in dem ersten Lehrbuche der chinesischen Schuljugend tausend! Die ganze Sprache aber enthält deren weit über vierzigtausend. Unsere liebe Jugend sollte sich deshalb beglückwünschen, daß sie nicht in dem „Reiche der Mitte“ das Licht der Welt erblickt hat, und daß ihr das Lernen in unseren Schulen so bequem und anschaulich gemacht wird. Die chinesischen Schulen haben auch keine Klasseneinteilung. Jeder einzelne Schüler ist sozusagen eine Klasse für sich. Hat er eine Seite des unverständlichen Lehrbuches auswendig gelernt, so tritt er vor den Lehrer, dreht sich mit dem Rücken gegen ihn und sagt seine Lektion her; je leichter er lernt, desto schneller wird er mit der Schule fertig. Das Lernen geschieht dabei laut; die kleinen Jungen sitzen auf ihren Bänken, wackeln mit dem Kopf, schlenkern die Hände, stampfen mit den Beinchen und schreien dabei ihre Lektion herunter, je lauter desto besser. Unsere Schuljugend ist gewöhnlich in der Schule recht still und brav, und erst wenn die Schulstunde zu Ende ist, geht der Heidenlärm los. Bei den Chinesen ist es, wie man sieht, umgekehrt. Das Geschrei ist erst zu Ende, wenn die Schule aus ist. Dann gehen die Schüler sittsam und ernst, müde von ihrem Lernen, nach Hause und benehmen sich dabei viel verständiger, als es bei unserer jungen Welt hier und da der Fall zu sein pflegt.

Noch schlimmer als mit den chinesischen Jungen ist es mit den kleinen Mädchen bestellt, denn sie erhalten gar keinen Unterricht. Die holde Weiblichkeit spielt ja bei den Chinesen eine ganz andere, viel weniger bedeutende Rolle als bei uns, wie ich es in der „Gartenlaube“ (siehe Halbheft 18 des Jahrgangs 1896) schon geschildert habe. Nur in den wohlhabenderen Ständen lernen die kleinen Mädchen ganz notdürftig lesen und schreiben, so daß sie vielleicht imstande sind, wenn erwachsen, die einfachsten Briefe und Geschichtenbücher zu entziffern. Erst seit die Europäer nach China gekommen sind und in den ihnen offenen Hafenstädten Ansiedlungen gegründet und Schulen für ihre eigenen Knaben und Mädchen eingerichtet haben, sehen die in diesen Hafenstädten wohnenden Chinesen ein, wie gut es ist, auch ihren Töchtern eine Schulerziehung zu geben. Die Engländer haben dementsprechend in ihrer Kolonie Hongkong im südlichen China Schulen für chinesische Mädchen errichtet, auch in Shanghai und anderen Städten giebt es jetzt schon

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0128.jpg&oldid=- (Version vom 20.5.2022)