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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Antons Erben.
Roman von W. Heimburg.

(5. Fortsetzung.)


Noch acht Tage bis zur Stunde des Abschieds. Wenn Christel nur wüßte, wie sie dieselben überstehen soll! Sie erscheinen ihr schlimmer als die Jahre, die dann kommen, die Jahre der Verlassenheit! Ja, sie wird gehen, nach Dresden zur Taufe fahren und nicht wiederkehren.

O, diese nächsten acht Tage! Ob sie den Verstand wohl behält in der Zeit, oder ob ihr armes gequältes Hirn sich verwirrt? Ein Wunder wär’ es nicht. Wenn man ihr sagte, du sollst in acht Tagen sterben, eine Wohlthat wär’ es gegen dies! Und – sich nichts merken lassen vor ihm, sich beherrschen müssen, nicht den Kopf an die Wand lehnen dürfen in verzweifelndem Schluchzen! Ihm die Hand zum Abschied drücken müssen mit einer Lüge auf den Lippen! Sie will gar nichts sagen, kein Wort sagen, sie will ihn nur noch einmal küssen, ja, das will sie. Und dann in den Wagen, vorüber am Pächterhause, wo die Gespenster ihres einstigen Glücks aus den Fenstern schauen und weinen und spotten. Und weiter, auf die Bahn, in ein Coupé, und immer weiter, und das Haus nicht mehr sehen und doch immerfort vor Augen haben und darinnen den Mann wissen, der aufjauchzt vor innerer Erlösung, weil sie fern ist!

Wirklichkeit? Ist es denn Wirklichkeit? Wenn sie nur nicht mit diesen ihren eignen Augen gelesen hätte, die Worte sich nicht eingebrannt hätten in ihre arme Seele mit Feuerschrift, die nie verlöscht. Ach ja, sie muß gehen, sie will gehen, es bleibt ihr ja nichts anderes übrig. Und es müssen auch diese acht Tage ertragen werden!

Und Christel schleppt sie wirklich hin auf ihren Schultern, einen nach dem andern. Mit Antons Befinden geht es überraschend vorwärts, jeden Tag besser – „das macht die Hoffnung“ sagt Christel sich.

„Sie können ohne die mindeste Sorge reisen, Frau Christel,“ versichert der Arzt eines Tages, „der Kranke ist jetzt bereits aufgestanden und geht im Zimmer umher, das Anlegen des Verbandes besorgt bestens meine Wenigkeit und die Toilette der Diener. Für Unterhaltung werden die Baronesse und Fräulein Edith verantwortlich gemacht, Besuche aus der Nachbarschaft treffen ein, und für den nötigen Aerger wird Heine das Seinige thun mit Berichten aus der Wirtschaft. Sie sehen, Frau Christel, es wird hier nichts fehlen, womit ich aber nicht gesagt haben will, Verehrte, daß Sie hier entbehrlich sind – nein, das habe ich nicht etwa gemeint, nicht wahr, Mohrmann?“ Und der joviale Herr schlägt dem Patienten auf die gesunde Schulter. „Länger als drei Tage Urlaub giebt’s nicht – was, Mohrmann? Sonst werden wir ungnädig und lassen die Treulose durch die Polizei zurückführen!“

„Lieber Herr Doktor,“ sagt Christel sehr langsam, „kein Mensch ist unentbehrlich, ich bin es auch nicht.“

Der alte Herr stößt augenzwinkernd den Hausherrn an. „Die angelt aber nach Komplimenten, die Gnädige!“ lacht er, „der Tausend, das hätte ich nie von Ihnen gedacht, Frau Christel, und so will ich Sie bestrafen, indem ich gar nichts darauf sage, der Herr Gemahl könnte sonst eifersüchtig werden; hab’ auch keine Zeit. Leben Sie wohl, meine Herrschaften, auf Wiedersehen, lieber Mohrmann, glückliche Reise, Frau Christel!“

Christel folgt dem Arzt auf dem Fuße und im Hausflur faßt sie nach seiner Hand. „Lieber Herr Doktor, ich kann mich doch darauf verlassen, daß Sie jeden Tag kommen werden zu meinem Mann?“

„Ja Schockschwerenot, habe ich Sie denn schon einmal im Stich gelassen?“ ist seine scheltende Erwiderung. „Machen Sie sich doch keine unnützen Sorgen, verehrte Frau, Sie finden ihn wieder vor, so breit und lang er ist, mein Wort darauf –“ Er bricht stotternd ab, sie sieht ihn so sonderbar an, daß dem alten Mann ganz wunderlich wird.

„Ich danke Ihnen,“ sagt sie, drückt ihm noch einmal die Hand und wendet sich wieder Antons Zimmer zu. Sie sieht jämmerlich aus an diesem letzten Tage, an dem der Koffer schon gepackt dasteht. Jeder fragt, ob sie krank sei. Und selbst Edith sagt bei Tische: „Bitte, sehen Sie sich doch einmal im Spiegel, Frau Christel; ich wette, Sie haben Reisefieber.“

„Ja, ich glaube,“ erwidert sie.

Edith hat es auf Christels Bitte übernommen, dem Hausherrn bei Tische behilflich zu sein; er kann das Fleisch nicht schneiden, und den Wein sich eingießen kann er auch nicht, Das junge Mädchen besteht darauf, heute noch vor den Augen Christels eine Probe ihrer Fähigkeit abzulegen. Sie streift die Aermel etwas von den feinen Handgelenken zurück und bedient den finster dreinblickenden Mann mit lächelnder Grazie. Seitdem Emma von Zobel, die Mitwisserin ihres Geheimnisses, abgereist ist, fühlt sie sich wieder freier vor Christel; das heimliche Herzklopfen freilich, das – das kann sie nicht unterdrücken.

Draußen weht ein frühlingsgleicher Wind, die Knospen der Buchen sind geschwollen, so daß die Hecken einen krausen dichten Eindruck machen, und Fräulein von Wartau bemerkt zu Christel, daß demnächst wohl das Tannenreisig von den Hyacinthenbeeten genommen werden könne; sie für ihr Teil glaube an einen zeitigen Frühling, und wenn sie nicht sehr irre, habe sie bereits das Pfeifen der Stare gehört. „Sie werden Ihre Freude haben an den Beeten,“ fügt sie hinzu, „dieser südliche sonnige Teil des Gartens ist köstlich im Frühjahr; er war immer mein besonderer Liebling,“ seufzt sie noch und denkt dabei an ferne Zeiten, an einen hyacinthenduftigen Frühlingstag, wo ihr vom Schicksal die erste und einzige Liebeserklärung ihres Lebens gegönnt wurde auf den kiesbestreuten Gartenwegen, in denen sie und er wandelten. Damals galten die Wartaus noch für reich; auch sie, die achtzehnjährige, wußte es nicht anders, und der schöne Offizier aus der benachbarten kleinen Garnison glaubte es ebenfalls.

Unter ihrem weißen Sonnenhut war sie erglüht bei seinen Blicken, seinen Worten, er hatte sie verglichen mit den rosigen Hyacinthenkelchen; und als eine selige Braut war sie in das Schloß zurückgekehrt und die Treppe hinaufgeflüchtet nach ihrem Mädchenstübchen; er aber hatte des Barons Zimmer aufgesucht, um, ihres Besitzes sicher, auch bei dem Vater zu werben. Und sie hatte gewartet, gewartet da droben, zitternd wie Espenlaub, daß der Vater sie rufen solle, um sie dem Bräutigam zuzuführen. Und niemand kam. Ueber dem Garten leuchtete goldig die Sonne des Abends und verglühte am Himmel; ein Weilchen stand die Windmühle von Altwitz wie eine Silhouette im roten Sonnenball. Dann flammten die Wolken noch einmal auf im leuchtenden Rot und verfärbten sich mählich zu violett und orange, und noch ein paar Minuten, dann lag draußen alles grau in grau, und Tonette von Wartau stieg mit blassem Antlitz die Treppe hinunter und suchte ihren Vater.

Der Herr Baron saß bereits beim Abendessen und ließ es sich wohlschmecken, die Schwester und deren Erzieherin ihm zu Seiten. Als er Tonette sah, war er ganz wie sonst, nur daß diesmal die scharfe Bemerkung unterblieb, mit der er jede Unpünktlichkeit zu tadeln pflegte. Mit keiner Silbe erwähnte er den Freier. Sie konnte nicht einen Bissen hinunterbringen, und nach Schluß der Mahlzeit stellte sie sich, zitternd vor Trotz, in seinen Weg.

„Wo ist Schmergenthin?“ fragte sie halb erstickt.

„Soll ich Schmergenthins Hüter sein?“ war die lachende Gegenfrage. „Ich denke mir, er spricht ein Dankgebet, weil ihn der Himmel vor einer Thorheit bewahrte.“

„Vater! Vater!“ stieß sie hervor.

„Als er hörte, daß dein Vater dir nicht einmal das Kommißvermögen mitgeben könne, Tonette,“ sagte er mit erhobener Stimme, „behauptete Schmergenthin plötzlich, er fühle sich deiner nicht wert, und bat mich, dir zu sagen, du möchtest ihn vergessen. Sei gescheit, Mädel, glaub’ ihm und folge seinem Rat! Und nun schlaf wohl, ich bin müde heute.“

In dieser Nacht verdarb Tonettes Seele. Armut und Verlassenheit sind zwei bittere Dinge, sie lehren die Geduldigen, noch geduldiger werden, aber die eitlen Herzen lehren sie das Heucheln, das Vorteilsuchen, sie lehren sie, andere bestehlen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0166.jpg&oldid=- (Version vom 20.9.2019)