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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Er ist, wie zufällig, vor dem Bilde „Napoleons Abschied von Josephine“ stehen geblieben. Er sieht die Schilderei an; bisher hat er sie kaum bemerkt. Ein Ausdruck von Genugthuung fliegt über sein zuckendes Gesicht. Ach, der hatte den Mut, der war ein ganzer Mann, er verstieß die Kinderlose – Frankreich zuliebe! Als ob Wartau ihm nicht dasselbe bedeute, was jenem Frankreich? – – Die Kerle, die anstatt des sogenannten Gemüts eine unbeugsame Energie besitzen, kommen weiter in der Welt!

Als ob er sich nicht auch Kinder wünschte! Als ob er noch Lust hätte zu arbeiten für irgend wen, der ihm gleichgültig ist! Die kinderlose Ehe wäre ja Grund genug für eine Trennung. – – Zum Henker mit der verfluchten Sentimentalität, die ihm sein deutsches Blut vererbte!

Am Hochzeitsmorgen hatte die Mutter ihm noch gesagt: „Anto, hüte dich, falle nicht zurück in solche Dummheiten wie die mit der Fränze. Dein Weib ist schlicht und rechtlich, das, was die Fränze verstand, versteht sie nicht – dich abzustoßen und wieder anzuziehen mit Thränen und Lächeln. Und ihr Männer seid wie die Kinder, ein Stück Brot werft ihr weg um ein Leckerwerk! Hüte dich, Anto, Brot ist das, was wir am notwendigsten im Leben gebrauchen.“

Ach, was wußte denn das alte Frauchen von Liebe und Leidenschaft? Was wußte sie von ihres Sohnes Herzen und von dem andern jungen Herzen da drunten, das ihn liebt, diesem Feuerherzen, das schon um einen kranken Hund sein Leben wagte? Herrgott, wie sie da hineinstürzte in das brennende Gebäude, ohne Besinnen! Dieses wundervolle Selbstvergessen, dieser kecke junge Wagemut! Und wie sie so erschreckt in seinen Armen lag, als er sie hinaustrug! Dieser Blick, diese Blässe, als er ihren Namen rief!

Er läßt sich zitternd in den Sessel vor dem Schreibtisch nieder. „Ich will Christel schreiben,“ sagt er halblaut, „ich will ihr alles gestehen, ich will – “ Er weiß es selbst nicht, was er will.

Die Dämmerung ist stark hereingebrochen, aber von einem rötlichen Schimmer durchhaucht. An seinem Schreibtisch mangelt schon das Licht; er zündet ein Streichholz an und damit die Stearinkerze; sie genügt, den Brief zu schreiben. Er will eben das im Wege Liegende von der Unterlage schieben, da sieht er einen Brief und auf diesem einen goldenen Ring.

Christels Ring! Christels Schrift!

Er faßt sich plötzlich an die Stirn, eine Ahnung kommt ihm, eine Ahnung, die ihn förmlich lähmt. Ein Weilchen sitzt er, den Ring anstarrend, den er in der Linken hält. Die Kerze entlockt dem Golde nur ein schwaches Funkeln, denn der Reif ist matt geworden in den Jahren, da er an der fleißigen Hand saß; Tausende von kleinen Kritzern sind da eingegraben und erzählen von Arbeit, harter Arbeit, die für ihn gethan wurde. Er faßt den Brief endlich, öffnet ihn unbeholfen mit der einen Hand, legt ihn auf die Platte des Schreibtischs und beugt sich darüber. Nur wenig Worte stehen da:

 „Lieber Anto!

In dieser ernsten Stunde ist nur allein die rückhaltloseste Wahrheit am Platze.

Ich habe den Brief gelesen, Anto, den Du an Freund Karl schriebst an jenem Tage, als das Feuer in Altwitz ausbrach. Wie ich dazu kam? das ist unwesentlich; es war nur Zufall und ihm danke ich es, daß er mir endlich die Augen öffnete. Ich hätte Dich gleich verlassen, um Dir Deine Ruhe, das Glück zu geben, das Du ersehnst, wenn Du nicht schwer verletzt zurückgekehrt wärst aus Altwitz; so mußte ich Dich noch länger mit meiner Gegenwart quälen.

Wenn Du dies liest, bin ich gegangen, und Du bist frei. Unsere gerichtliche Scheidung wird keine Schwierigkeiten machen – ich gab Dir ja kein Kind.

Ich weiß, Du bist gut und mitleidig, Du wirst versuchen, mich zu bereden, bei Dir zu bleiben, aber ich komme nicht! Dein Mitleid will ich nicht, Deine Liebe habe ich nicht, und so, wie unser Verhältnis jetzt ist, halte ich es für unwürdig.

Leb’ wohl, Anto, sorge Dich nicht um mich, ich kann arbeiten und bringe mich schon weiter. Werde Du nur glücklich, recht glücklich, das ist mein größter Wunsch!

 Christel.“


Das ist der ganze Brief, einfach, schlicht, ohne einen einzigen Vorwurf für ihn, der ihr die Treue des Herzens brach, und dennoch fest und energisch im Wollen; keine Klage, keine Sentimentalität, kein Jammer über ihr gebrochenes Glück.

Eine Viertelstunde ist vergangen. Drunten über den Hof rollt die Equipage, die von der Bahn zurückkehrt; der Kutscher hat auch ohne Befehl angespannt, um die Frau abzuholen, aber Anton merkt hier oben nichts davon. Erst jetzt, wo man an seine Thür klopft, fährt er empor und starrt den Diener an, der, noch im Mantel, den Hut in der Hand, meldet: „Herr Doktor Konring aus Dresden.“ Und er hat den Namen noch nicht ausgesprochen, da schiebt der Doktor ihn schon beiseite, tritt, ebenfalls noch im Reisepelz, in die Bibliothek und erblickt den Freund, der sich mit blassem Antlitz von seinem Schreibtisch erhebt.

Den „Guten Abend!“ spart er sich, er sagt nur leise: „Mein Gott, Mensch, was sind das für Geschichten, die du da angerichtet hast!“

„Karl!“ Mohrmann richtet sich straffer auf, „ich weiß, sie schickt dich – wo ist sie, Karl? – ich bitte dich.“

„Zunächst bei uns,“ antwortet der Freund. „Ja, Alter, du wolltest es ja nicht anders.“

Anton stöhnt plötzlich auf, als packe ihn ein heftiger körperlicher Schmerz, und der Freund legt ihm die Hand auf die Schulter.

„Sie kommt natürlich nicht wieder, Anton,“ sagt er ernst, „sie schickt mich aber, um mit dir von der Scheidungsangelegenheit zu sprechen. Sag’ mir nur, Kerl,“ fährt er mit erhobener Stimme fort, dann bricht er ab beim Anblick des Freundes, der in einer Anwandlung von Schwäche auf den Stuhl zurückgesunken ist, schleudert den Hut von sich und reißt den Pelz herunter, Anton Zeit lastend, sich zu fassen. „Bist du denn ganz von Gott verlassen?“ beginnt er wieder, um abermals abzubrechen und das zuckende Antlitz des Mannes zu betrachten. „Na, wozu noch reden?“ spricht er gelassen. „Es ist ja gar nichts mehr zu wollen, gar nichts – sie ist wie mit der Schere abgeschnitten, die Geschichte. Und nun nimm dich zusammen, wir haben Ernstes zu besprechen und lange kann ich nicht hier bleiben, ich habe schwere Patienten daheim.“

„Sie kommt nicht wieder?“ fragt Anton jetzt.

Kann sie denn das?“ ruft dunkelrot vor Zorn der Arzt, „ist sie denn ein Hund, den du mit Füßen treten darfst und der dir winselnd dafür die Hand lecken soll? Sie ist ein Weib, das auf sich hält, auf Würde hält; ein Weib, das Stolz besitzt, mehr als du, mein Junge. Gieb mir lieber ein Glas Wein, und dann laß uns die paar Punkte besprechen, die nötig sind, eure Scheidung einzuleiten. Je bälder die Sache zum Klappen kommt, um so größere Wohlthat ist es für die arme Seele. Also sei so gut, Anton, laß mir ein Glas Wein kommen und einen Happen zu essen, ich fahre heute nacht zwölf Uhr zurück.“

Anton erhebt sich wie ein alter, müder Mann und macht eine Bewegung nach der Thür. „Laß uns hinunter gehen,“ bittet er. – Sie kommt nicht, sie kann nicht kommen, sagt er sich, und das, was er gewollt, glühend ersehnt, gehofft, seine Freiheit, sie fällt wie eine centnerschwere Last auf seine Schultern.

Es ist nicht viel, was drunten in Antons Zimmer bei einem eilig servierten Imbiß der Doktor für Christel verlangt. Man könne ja ihre Kinderlosigkeit als Grund der Trennung geltend machen, und wenn sie vielleicht ihr eingebrachtes kleines Vermögen zurückerhalten könne … Wenn es aber Anton Unbequemlichkeiten machen sollte, das Kapital herauszugeben, so ist sie auch mit den Zinsen zufrieden, die ihr Anwalt in Empfang nehmen mag. So hat sie zu dem Arzt gesagt, und so trägt dieser es dem Manne vor, auf dessen bleichem Gesicht man die Erschütterung liest.

„Also das Kapital, das sie einbrachte,“ wiederholt der Doktor ganz geschäftsmäßig. „Es genügt auch für sie, und wie die Verhältnisse liegen, wirst du auch künftig wohl Geld genug brauchen, alter Freund. Es thut mir leid um euch beide, Anton,“ fährt er fort, „du siehst aber selbst ein: es giebt keinen Rückweg, es giebt keinen Stillstand in der Sache, also vorwärts! Du willst es ja auch schließlich so. Was mich anlangt – ich habe gemeint, die Frau, die mir da blaß und zitternd die ganze Geschichte erzählte, sei verrückt, hab’s nicht für möglich gehalten! Na, es passieren wunderliche Dinge auf der Welt. Wir, meine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0171.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2020)