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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

Edith fährt empor, und ihre erstaunten Augen sagen ohne Hehl, daß sie die Tante für verrückt hält. Ein ungläubiges kurzes Lachen fliegt durch das Zimmer.

„Du wirst erst im Juni mit ihnen zurückkommen.“

„Herrgott, liebe Tante!“

„Ich will keinen Klatsch, verstehst du? Und wenn du es nicht kapierst – um so besser. Jedenfalls gehst du von Wartau fort.“

Edith senkt den Kopf – sie hat verstanden. Dunkelrot, mit zuckendem Munde sitzt sie da. Dann springt sie auf und läuft in ihr Zimmer, und dort steht sie hochaufatmend still und nagt die Lippen. Ihr graut vor dem Feldherrntalent der Tante. Und diese holt seufzend ihr Kontobuch, das auf ein Bankgeschäft in Leipzig lautet, hervor. Sie muß ihre paar heimlich ersparten Groschen opfern – so Gott will, bringen sie ihr Zinsen, hundertfältig!

Dann setzt sie sich und schreibt an eben diesen Bankier. Nach einem Weilchen des Ueberlegens beschließt sie, anstatt nach Altwitz zu gehen in diesem Sturm – die Mohrmannsche Equipage mag sie heute erst recht nicht benutzen –, an die Gräfin zu schreiben und diese zu bitten, Edith, die ein wenig huste, unter ihren Schutz für einen Aufenthalt im Süden nehmen zu wollen. Sie kann sich zwar denken, daß es den alten Herrschaften vielleicht nicht ganz paßt, ein schönes junges Mädchen zu chaperonnieren, aber sie kann ihnen nicht helfen, Edith muß fort, es darf nicht der leiseste Schatten auf ihren Ruf fallen; um keinen Preis aber soll sie in dem Hause des in der Scheidung liegenden Mannes bleiben.

Ihrer Schwester gegenüber beschließt sie vorläufig noch zu schweigen; die ist so schrecklich unbequem mit ihren aristokratischen Ideen von Standesehre und hält Dinge für verwerflich, die völlig gäng und gäbe sind im Kampfe des Lebens. Ihre Vorwürfe kommen noch früh genug.

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Pastors gehen unverrichteter Sache wieder heim. Anton hat ruhig den Redeschwall seines geistlichen Schwagers über sich ergehen lassen, im Lehnstuhl sitzend oder umherwandernd, denn der Herr Pastor spricht lange. Endlich, als auch die Pastorin sehr erregt eintritt, sagt er: „Bitte, redet nicht mehr davon! Wir sind beide Menschen, die ihren gesunden Verstand haben – wir können nicht zusammenbleiben; ich leide darunter so schwer wie Christel, aber wir werden es tragen. Ihr meint’s gut, habt Dank? Zu ändern ist nichts.“

Die Pastorin faßt ihren Mann am Rockärmel; er will eben noch einmal beginnen über die Heiligkeit einer vor Gottes Altar beschworenen Ehe, da sagt sie:

„Komm’, Robert; das Fräulein von Wartau da oben hat eben erklärt, es giebt Verhältnisse, die eine heilige Sache entheiligen und umwandeln zum Schlimmsten, und ich glaube, sie hat recht. Red’ nicht mehr; er kann nicht anders und sie auch nicht – glaub’ mir’s.“

Der geistliche Herr sieht seine Frau verwirrt an, nimmt den Hut vom Tische und folgt ihr mit einem kurzen verwunderten Blick auf Anton.

„Adieu, Anton,“ sagt die blasse Frau. „Ihr habt recht, es ist besser, ihr geht voneinander.“

„Erzähl’ mir’s doch nur, Lotte,“ beginnt der Pastor, als sie daheim angekommen sind in seiner stillen Arbeitsstube und die vom schnellen Gehen schwer atmende Früu auf den nächsten Stuhl gesunken ist, „was hat’s denn gegeben zwischen den beiden?“ Und er beugt sich über sie und streicht ihr die feuchten Haare aus der Stirn.

Sie hat Christels Augen, nur durch Weinen getrübt, große treue Sterne von hellem bräunlichen Grün. Sie sieht ihn an mit ihrem großen Kummer. „Robert, er liebt eine andere!“ sagt sie. „Und deshalb darfst du nicht zureden, denn eine weit größere Sünde wär’ ihr Zusammenbleiben, Robert, als ihre Trennung. Nein, sag’ nichts, Robert, das ist so und – ich bliebe auch nicht bei dir, wenn du –“

„Aber Lotte,“ bittet er vorwurfsvoll.

„Du sagst selbst, die Sünde naht dem Menschen in tausenderlei Gestalten, und du sagst – wir sind schwach, wir unterliegen ihr –“

„Und wenn dein Mann kämpfte, um der Sünde Herr zu werden, würdest du ihm nicht helfen wollen, Lotte, ihm zur Seite bleiben in der schweren Zeit?“

„Ich würde bei meinem Mann bleiben und wäre er ein Mörder, aber in diesem Falle nicht. Nein, dazu wäre ich einesteils zu stolz, und andernteils –“ sie stockt und wird verlegen – „und ich könnt’s nicht sehen, wie du dich vielleicht quältest neben mir,“ setzt sie leise hinzu.

Er versteht sie plötzlich und er versteht Christel, und jetzt verstummt er vor diesem einfachen demütigen Bekenntnis einer Liebe, die ihre weinenden Augen verhüllt und geht, um den andern glücklich werden zu lassen. Und der sonst so streng eifernde Mann zieht die Frau in seine Arme und küßt sie mit feuchten Augen.

„Und Christel denkt wie ich,“ flüstert sie, „ich weiß es.“

„Arme, stolze, demütige Christel,“ sagt er, „ich hatte dich nicht verstanden.“




Am fünften März haben die Altwitzer reisen wollen; es ist heute der vierte, der Abend vorher. Tante Tonette hat ihn ersehnt, Edith fast auch. Es ist freilich zum Sterben langweilig und zum Verzweifeln aufregend jetzt in Wartau.

Die alte Dame hat seit dem Bekanntwerden der Mohrmannschen Trennung gewünscht, auf ihrem Zimmer zu speisen. Sie sind auch einfach unmöglich, diese Diners zu dreien mit dem Manne, der mitten in der Scheidung von seiner Frau steht. Das spricht sie ganz laut aus, so daß die Dienstboten es hören. Edith aber steht am Fenster und späht ganze Tage lang nach der hohen Gestalt, wie sie über die Steinplatten des Hofes kommt und geht, und hat ein ewiges, unausgesetztes Herzklopfen.

Er sieht nie hinauf, mit keinem Blick, aber ihr Herz klopft darum nicht weniger schnell. Sie ist nicht unbefangen und kann es nicht sein ihm gegenüber, aber sie würde ihn gern vor ihrer Abreise noch einmal wiedersehen. – Ob er noch immer den heißen Blick für sie hat, möchte sie wissen, wie an jenem Tage, da er ihr zum erstenmal begegnete? Oder – ob er der Frau nachtrauert, der er gehörte bis jetzt? Nein, nein, es ist nur – o, sie weiß, die Tante ist klug und er ist ritterlich – nur der Leute wegen, der Leute wegen! Träfe sie ihn allein, ganz allein, irgendwo auf engem Wald- oder Feldweg, nur der Himmel über ihnen, die grünende Saat oder das schwellende Geäst des Buchengestrüppes zur Seite, dann, ja dann würde seine große sehnsüchtige Leidenschaft ihn die Arme ausbreiten lassen. „Edith!“ würde er rufen wie an jenem Tage in Altwitz.

Sie hat sich vorgenommen, ihm auf einem Spaziergange zu begegnen, aber bisher ist sie vergebens die einsamen Feld- und Waldwege gewandert, nirgends zeigt er sich. Und heute hat sie ihn noch gar nicht erblickt und er weiß doch, daß sie morgen verreist auf lange Zeit. Es ist dumm, ohne Gewißheit fort zu müssen, und Edith brennt auf diese Gewißheit, schon Edis wegen und der Zukunftsträume wegen. Womit soll sie sich denn die Zeit vertreiben? Mit dem alten Paar, das sie begleiten soll, das von Tonette genaue Instruktionen bekommen hat, Edith zu keinerlei Vergnügungen zu führen – Edith habe noch Trauer und außerdem wünsche der Arzt ein ruhiges Verhalten für sie.

Ach die Oede, die Langeweile! Ihr wird es gleichgültig sein, ob vor den Fenstern der Villa, in welcher das Ehepaar Altwitz jedes Jahr ein paar Zimmer bewohnt, Palmen rauschen und das Mittelmeer seine blauen Wasser breitet, ihr Denken wird immer nur in Wartau sein, und abwechselnd auch bei Edi in Berlin; bei letzterem natürlich nur aus Haß. Dieser blonde aristokratische Junge, der so berechnend ist wie ein polnischer Handelsjude – sie zittert ordentlich, wenn sie an ihn denkt.

Warum soll er eigentlich nicht wissen, wenn es endlich heißt: der Besitzer von Wartau läßt sich von seiner Frau scheiden, um Fräulein Edith von Ebradt zu heiraten? Es ist doch so? O, nur so viel Gewißheit, um Ma von Zobel eine Andeutung machen zu können; dann erfährt es auch er bald, das wird ihre Rache sein!

Sie tritt bei diesem Gedanken mit dem Fuße auf das Parkett, so daß Fräulein von Wartau sich veranlaßt sieht, ein tadelndes „Aber Edith, man erschrickt sich ja zu Tode!“ auszurufen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0174.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2020)