Seite:Die Gartenlaube (1898) 0198.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

„Es wäre Zeit, daß sie endlich gesund würde,“ sagte ihr Mann, und der Arzt erwiderte, das denke er schon ein Jahr lang. Er hätte gern noch etwas hinzugesetzt, aber der Herr winkte halb ängstlich, halb ärgerlich ab, und so trat ein Schweigen ein, das die beiden zugleich unterbrachen, um einander mit der Hoffnung auf den herannahenden Frühling zu trösten. Aber auch dieser brachte keine Besserung. Der Sommer kam, warm, mild und wonnig, ein schöner Herbst folgte ihm. Täglich wurde die Kranke in den Garten getragen und lag dort stundenlang auf einem Ruhebett im Schatten würziger Nadelbäume. Neben ihr stand der Korbwagen der Kleinen und zu ihren Füßen saß Frau Apollonia und strickte. Auf der Wiese jenseit des Weges in gehöriger Entfernung spielten und balgten sich ihre ehemaligen Zöglinge, von einer handfesten Magd überwacht. Sie hatte dafür zu sorgen, daß die Buben die Grenzen ihres Bereichs nicht überschritten und nicht einbrachen in das der Mutter und der Schwester. Es mißlang aber oft, die Jungen waren zu neugierig, die arme Kleine zu sehen, zu sehnsüchtig, die Mutter zu umarmen, von der man sie immer ängstlicher ferne hielt. Sie fühlten sich zurückgesetzt, bestraft, und gerade in der letzten Zeit hatten sie doch kein Unrecht gethan und waren nicht wie gewöhnlich gegen die Mama, sondern nur gegen Apollonia und die Magd ungehorsam gewesen. Der Papa kümmerte sich um sie weniger denn je. Er ging mit zerstreuter Miene umher, rauchte viel, las ein halbes Dutzend Zeitungen und antwortete jedem der Hausleute und jedem seiner Untergebenen, der von ihm eine halbwegs wichtige Entscheidung verlangte: „Das werden wir bestimmen, wenn die gnädige Frau wieder gesund sein wird.“ Wenigstens zwanzigmal im Tage ging er zu ihr hinüber, setzte sich auf ihr Bett, versicherte, daß sie recht gut aussehe, empfahl sich wieder und vergaß regelmäßig die Thür zu schließen.

Auf den Wunsch des Doktors berief Kosel einen Professor aus Wien, der allerlei Ratschläge gab. Sie wurden befolgt, aber ohne den geringsten Nutzen.

Herr von Kosel ließ sich trotzdem in seiner Zuversicht, daß es endlich doch besser werden müsse, nicht irre machen und fragte ganz naiv, wenn der Arzt schwere Besorgnisse äußerte: „Ich bitte Sie, was soll ihr denn geschehen?“

Eines Morgens fühlte sich die Kranke nach einer schlechten Nacht besonders schwach, verlangte aber doch, in den Garten getragen zu werden. „Denn,“ sagte sie, „ins Zimmer läßt man mir meine lieben, wilden Buben nicht und ich möchte sie doch wenigstens sehen.“

Als sie dann mit Apollonia und mit der Kleinen auf ihrem gewohnten Platz untergebracht war und die drei Jungen von weitem herüberwinkten und grüßten, begann sie flehentlich zu bitten: „Gute Poli, hol’ sie mir herüber, meine Rangen! Ich glaube, daß ich heute nicht geschlafen habe aus Sehnsucht, sie wieder einmal in meinen Armen zu halten und nach Herzenslust zu küssen. Und die Kleine leg’ mir auf den Schoß, ich möchte sie ihnen zeigen.“

Apollonia gab nach, allen empfangenen Verhaltungsmaßregeln zum Trotz. Sie brachte den Buben die Botschaft der Mutter, hielt ihnen aber dabei die geballte Faust entgegen: „Ihr dürft kommen, einen Augenblick. Wer Lärm macht, der kann sich freuen! Vor der Mutter sag’ ich nichts, aber was dann geschieht, darauf wartet.“

Ein toller Jubel brach aus: „Zur Mutter, zur Mutter und zur armen Kleinen!“

„Ruhig!“ wetterte Apollonia, „wer nicht ruhig ist, kehrt gleich wieder um. Ihr geht hinter mir.“

Die Jungen brachten es in der Selbstbeherrschung so weit, ein paar Schritte, nicht gerade hinter Apollonia, aber doch neben ihr zu machen. Plötzlich guckten sie einander an – ein Augenwink und vorwärts, alle drei zugleich, wie der Sturm, und die gute Frau Budik schrie und drohte und lief ihnen nach, ohne die geringste Hoffnung, sie einzuholen.

Joseph war zuerst am Ziele. Fast sprachlos vor Seligkeit umschlang er den Hals seiner Mutter, eifersüchtig drängten sich die jüngeren Bruder heran und der Kranken verging der Atem unter den leidenschaftlichen Liebkosungen ihrer Kinder. Ihre Arme lösten sich, die Kleine geriet in Gefahr, zu Boden zu gleiten. Franz fing sie aus und rief triumphierend: „Ich hab’ sie, ich hab’ sie!“ Die Kleine schlug die Augen auf und sah das dicke, rote Gesicht, das sich über ihr winziges beugte, ruhig und wißbegierig an. „Was bist denn du für ein Ungeheuer?“ schien sie zu fragen. Keuchend kommt Apollonia herbei, nimmt das Kind, legt es in den Korb und ermahnt die Buben, den Rückweg anzutreten. Aber sie schenken ihr kein Gehör, sie umstehen die Mutter, sie küssen ihre Wangen, ihre Hände, und sie lächelt ihnen zu, versucht zu sprechen, vermag es nicht, und jedem der Knaben ist, als habe sie zuerst ihn und dann das Kindchen im Korbe angesehen mit einem inständig flehenden Blick, der es ihm, besonders ihm, seinem Schutze empfahl. Sie riefen wie aus einem Munde: „Ich thu’ ihr nichts!“ Die Mutter lächelte, ein Schauer durchrieselte ihre Glieder.

„Um Gotteswillen, sie stirbt!“ schrie Apollonia auf. Auch die Knaben schauderten vor der plötzlichen Veränderung in den Zügen der Kranken. „Lauf ins Schloß, lauf um den Doktor!“ befahl Apollonia der Magd, die ihr gefolgt war.

Vom Schlosse her kamen Leute, allen voran eilte Kosel. In Verzweiflung warf er sich neben der Entseelten nieder, weinte, schluchzte, beschwor sie um ein Lebenszeichen, um ein Wort. Vergeblich. Ihre letzte, stumme Bitte war zu ihren Kindern gesprochen worden, ihr letzter Blick hatte auf ihren Kindern geruht.


Die grausamste Antwort auf seine ständige Frage: „Was soll ihr denn geschehen?“ hatte Felix Kosel jetzt erhalten. Er empfand den Tod seiner Frau als das größte Unglück, das ihn treffen konnte, und war doch gar nicht darauf eingerichtet, Unglück zu ertragen.

Das Schicksal war ihm bisher immer mild gewesen, er hatte seine Kindheit und seine Jugend zwischen einer zärtlichen Mutter, zwei begeisterungstrunkenen Tanten und seiner Milchschwester verlebt, dieser klugen, braven Apollonia, die ihn im geheimen allerdings manchmal prügelte, aber dennoch mithalf, ihn herzlich zu vergöttern. Der Vater lachte, schimpfte wohl auch über die Weiberwirtschaft, ließ sie aber weiter florieren. Er war ein Mann von rastloser Thätigkeit, dem wenig Zeit übrig blieb für die Familie. Später, wenn sein Bub’ die Kinderschuhe ausgetreten haben würde, sollte alles anders werden, dann gedachte er ihn in die Hand zu nehmen. Felix hatte aber sein zehntes Jahr noch nicht ganz erreicht, als Herr von Kosel bei einer Eisenbahnkatastrophe ums Leben kam. Die Feldwirtschaft seines Gutes Belice wurde einstweilen verpachtet, die Familie zog nach der Provinzhauptstadt, wo Felix erst eine Vorbereitungsschule und dann, ein paar Jahre später als gewöhnliche Menschenkinder, das Gymnasium besuchte. Er machte es durch, ohne Glanz und ohne besondere Schmach, wiederholte nur die dritte und die achte Klasse, beging nicht einen dummen Streich, schloß auch keine Freundschaft. Die Mutter, die Tanten unterließen es nie, ihn vor den „Buben in der Schule“ zu warnen wie vor Klapperschlangen in Jacken und Hosen.

Nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, trat er sein Freiwilligenjahr an. Eine schwere Zeit im Leben seiner Götzendienerinnen! Zum Regimente konnten sie ihm nicht folgen. Aber einen alten Diener – er hieß Kopetzky und war des Schreibens mächtig – gab Frau von Kosel ihm mit, einen ehrlichen Spion, der täglich über das Befinden des jungen Herrn, über sein Thun und Lassen nach Belice berichten mußte. Dort saßen die Damen nun wieder alle beisammen und warteten auf die Rückkehr des Lieblings.

Er kam heim. „Ganz unverändert!“ triumphierte seine Mutter. „Ganz der Alte, Gott sei Lob und Dank!“ sagte ihre jüngere Schwester, die fromme Renate.

Nur Charlotte, die jüngste, der Feuergeist in der Familie, die Menschenkennerin, behauptete, einen Reflex von militärischem Wesen an ihm wahrzunehmen, und wer weiß? – vielleicht hatte er Erfahrungen gemacht.

Nun, davon hatte Kopetzky nichts geschrieben, und die Worte ihrer Schwester machten keinen Eindruck auf Frau von Kosel. Es gab etwas anderes, das sie peinigte, ihr den Schlaf raubte und den Appetit. Felix schenkte in neuester Zeit seiner Milchschwester eine auffallende Aufmerksamkeit, hatte Rücksichten für sie, die ihr vermöge ihrer Stellung als „Stütze der Hausfrau“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0198.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2016)