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verschiedene: Die Gartenlaube (1898)

jedes Jahr fortgehen, um dieses herrliche Wiederhaben zu genießen.“

Sie nickt dabei in den Garten hinaus, als grüße sie jeden Baum, jede kleine Welle im Teich. „Und nun setzen Sie sich, liebes Kind. Wie geht es Tante? Wie nett von Ihnen, daß Sie gleich an uns denken! Ja, so ein Vierteljahr in der engen Gemeinschaft des Reiselebens, das macht Freundschaft. Ich finde auch, die fremden Leute, die man da draußen so trifft, sie bleiben einem viel länger im Gedächtnis als irgend eine Bekanntschaft in der Heimat – nicht? Es knüpft sich immer gleich der Ort, wo wir sie sahen, an ihre Person. Ich kann, zum Beispiel, an Waldenbergs nicht mehr denken, ohne das schöne Luzern vor mir zu sehen. Arme Menschen! Arme kleine Frau! Wie schwer für sie, zu wissen: der Vater wird die Geburt seines Kindes vielleicht nicht mehr erleben.“

Ein kurzer Laut läßt die alte Dame Edith näher ansehen; das Mädchen ist so bleich geworden wie das Batistkleid, das sie trägt.

„Ach, das hätte ich Ihnen ja nicht erzählen dürfen, Kindchen,“ sagt verlegen die Gräfin, „es ist gar nichts für Sie; ich hin alt und plappere so alles heraus – die kleine Frau vertraute mir das an unter vielen Thränen – ich traf sie, während Sie draußen saßen im Lesezimmer, ihr Mann schlief – – immerhin, sie kann wenigstens die Beruhigung haben an dem Schmerzenslager des Gatten, daß der große Besitz dem Kinde erhalten bleibt, daß sie selbst nicht heimatlos wird. Ja, Gott gebe ihr einen gesunden Buben, ich wünsche es so von ganzem Herzen.“

„Und wenn es ein Mädchen ist, wenn –?“ stottert Edith, mit Purpurglut übergossen.

„Gleichviel! Es ist nicht an den Mannesstamm gebunden, das Rittergut, es ist sogenanntes Weiberlehn; an die Waldenbergs kam es ja auch durch die Mutter des jetzigen Besitzers, früher war es eine Wülffensche Besitzung.“

Edith schweigt. Ein Diener bringt köstliche Erdbeeren mit Zucker; dem jungen Mädchen aber ist es nicht möglich, eine davon zu essen. Sie fühlt sich körperlich völlig elend durch diese Mitteilung, die gleichbedeutend ist mit einem Entsagen auf Edi für immer.

„Sie sind noch angegriffen von der Reise, Töchterchen,“ sagt die Gräfin liebenswürdig, „so ein alter Körper hält wahrhaftig mehr aus. Ich lasse Sie erst in der sechsten Stunde fort, die Hitze ist doch um die Mittagszeit schon recht fühlbar, und außerdem wird mein Mann Sie gern sehen wollen. Er behauptete heute früh schon, Ihr schönes Gesichtel fehle ihm am Kaffeetisch. Legen Sie sich ein wenig in meinem Zimmer auf die Chaiselongue, dann sind Sie wieder strahlend frisch, wenn er kommt.“

Edith geht gehorsam und legt sich auf das Ruhebett der alten Dame in die großen gelbseidenen, mit Volants garnierten Kissen und schließt die Augen. Ihr ist ganz schwindlig geworden. Gottlob, daß sie allein sein kann! Hinter ihrer Stirn jagen sich wild die Gedanken, zuletzt bleibt ihr nur noch das Gefühl der Ergebung in das Unvermeidliche, ohne Widerstand, ohne Gnade. An ein Leben, auf eigene Kraft erbaut, denkt sie nicht, weil ihr diese Möglichkeit niemals gezeigt wurde, weil sie sich eine Frau, die selbständig für sich sorgt, stets als ein Wesen untergeordneter Art vorgestellt hat. Die einzige Rettung für sie ist die Heirat, und die einzige anständige Partie, die sich ihr, dem armen Mädchen, bietet, ist – Mohrmann.

Als sie nach einer Stunde die Stimme des Grafen hört, steht sie auf und tritt wieder zu den alten Herrschaften.

„Ach,“ sagt die Gräfin befriedigt, „jetzt sehen Sie wieder wie sonst aus; was thut nicht so ein bißchen Ruhe!“

Und Edith plaudert noch ein wenig, neckt sich mit dem alten Herrn und geht dann unter ihrem großen roten Sonnenschirm Wartau wieder zu, mit hastigen Schritten, als versäume sie etwas. Sie ist erregt und rosig erglüht von dem raschen Gange, als sie in den Flur des Schlosses tritt, in dem schon leichte Dämmerung liegt; sie hat nie reizender ausgesehen – der Hut hängt ihr am Arm, die Löckchen über der Stirn sind ein wenig verweht, und sie ist auf der Reise voller, größer geworden.

Und Anton Mohrmann steht auf der Schwelle seines Zimmers, eben zurückgekehrt von Drottlingen, müde und abgespannt, um Jahre gealtert seit den letzten Monaten. Sie ist so plötzlich eingetreten, daß er die unwillkürliche Fluchtbewegung unterdrückt und stehen bleibt, wie aus Stein gemeißelt. Auch ihr Fuß stockt, und so verharren beide einen Augenblick und sehen einander an. Ediths Augen senken sich langsam, ein Zittern fliegt über ihre Glieder. Etwas unendlich Rührendes liegt in ihrer hilflosen Verlegenheit, und er hat all diese Zeit hindurch immer nur daran gedacht, wie sie ihn liebt, wie sie sich nach ihm sehnt und – er ist ja frei, frei, und er fühlt die heilige Pflicht, das Mädchen, dessen Herz er weckte, an das seine zu ziehen – wenigstens diese eine Schuld zu sühnen!

„Komm’, Edith,“ sagt er und führt sie in das Zimmer, wo die Rokokotänzer in ihren verschnörkelten Stellungen an den Wänden schweben.

Einen Augenblick hat sie hastig widerstrebt, dann, wie sich besinnend, ist sie ihm gefolgt, und nun hat er sie an sich gezogen, und seine große zitternde Hand hält ihren Kopf an seine rasch atmende Brust gepreßt.

„Edith, bist du so wiedergekommen wie du gingst? Denkst du noch ebenso? Sag’ es, Kind, du hast vielleicht fern von mir anders fühlen gelernt? Sag’s ehrlich! Ich weiß ja, deiner Jugend gegenüber bin ich ein alter Mann, der Schweres hat durchkämpfen müssen – sag’s ehrlich!“

Sie rührt sich nicht, es geht nur ein leises Beben durch ihre Glieder.

„Willst du bei mir bleiben, Edith? Ist’s wahr, was mir Tante Tonette verriet, daß du meiner gedacht hast da draußen alle Tage?“

Da hebt sie den Kopf. „Ja!“ sagt sie kurz und hastig, „bitte, erkläre du es Tante, daß – –“

„Gleich?“ fragt er, befremdet durch ihre schroffe Art.

„Ja – gleich, ich bitte dich!“

Er küßt sie auf den Mund, dann geht er. Sie tupft mit dem Batisttuch auf die Lippen, als brenne sie der Kuß, und sieht sich mit kalten zornigen Augen um. Die koketten Gestalten da an der Wand scheinen höhnisch zu kichern und auf sie zu deuten, und sie schließt die Augen und setzt sich in eins der spindelbeinigen Sesselchen, schlägt die Hände vor das Gesicht und weint, stoßweise, heftig, wie sie als Kind geweint, wenn sie ihren Willen nicht bekam und sich in den eines andern fügen mußte. Und dann stürzt Tante Tonette herein, hustend, kurzatmig, und hält sie umschlungen und streichelt sie, küßt sie und gebärdet sich wie närrisch.

„Böse sollt’ ich dir sein? Wie hast du die alte Tante genarrt! Warte nur, ich gedenk’s dir, mein Liebling, süßer, vernünftiger – Gott segne dich!“

Als man sich spät am Abend trennt, hat Tante Tonette feierlich ausgemacht, daß die Verlobung geheim gehalten wird, daß Edith und sie in irgend eine stille Sommerfrische gehen, daß die Hochzeit zu Ende November stattfinden soll im kleineren Kreise und daß Anton unterdes den sehr umfassenden, aber höchst nötigen Reparaturbau des Schlosses vornimmt. Und als Tante Tonette sich bereits in süßen Träumen wiegt, als Edith mit einem trotzigen Zug um die Lippen schon schläft, da sitzt drunten im Wohnzimmer ein großer blonder Mann auf Christels Fensterplatz und starrt hinaus mit blassen müden Zügen nach dem Garten, der in grellem Mondschein liegt.

Anton hat zu allen diesen Vorschlägen, die über ihn hereingestürzt sind wie ein rauschender Wasserfall, immer nur Ja! gesagt. Er ist noch wie betäubt. Die alte Dame kommt mit so bestimmten und durchdachten Forderungen, sie muß sich alles längst überlegt haben. Es thut ihm beinahe weh, aber er sagt Ja! und Edith schweigt. Nichts weiter empfindet er als die Sehnsucht nach dem Frieden, den er verlor.

Und wie er sich müht, diesen verlornen Frieden seiner vergangenen Tage in der Erinnerung wieder zu beschwören, da will ihm scheinen, als verkörpere er sich in der Gestalt eines großen blonden Weibes mit gutem Lächeln auf den Lippen und treuen blauen Augen, das schemenhaft an ihm vorübergleitet, zu der Thür des Zimmers hinaus, über die Freitreppe, den Hof, und dort in der Einfahrt zerfließt es und verschwindet.

Sein Frieden, sein Glück ist fort, er hat es, er selbst hat es verstoßen.

„Christel!“ stöhnt er.

(Fortsetzung folgt.)     

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verschiedene: Die Gartenlaube (1898). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1898, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1898)_0216.jpg&oldid=- (Version vom 23.4.2024)